Kurzgeschichte zu KoZ
Träume zeigen unsere größten Ängste oder unsere tiefsten Wünsche. Als Raxia während einer kurzen Pause im warmen Sommerwind ein Nickerchen macht, wird sie mit ihren Gefühlen konfrontiert. Was das wohl zu bedeuten hat?
KAPITEL 1
Das weiche Gras fühlt sich herrlich unter meiner Haut an, während ich im warmen Sonnenschein entspanne. Ein frischer Duft nach gemähter Wiese liegt in der Luft. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Ein tolles Wetter. Zufrieden verschränke ich die Arme unter meinem Kopf und winkle die Beine an. Ein Maikäfer krabbelt über meinen Fuß. Kichernd schüttle ich ihn ab und beobachte, wie er wegfliegt.
„Was ist so lustig?“, fragt Mio.
Er sitzt neben mir im Gras.
„Heute ist ein toller Tag, findest du nicht?“, frage ich verträumt.
„Ja, wer hätte gedacht, dass wir bei der ganzen Gefahr, die um uns lauert, tatsächlich mal einen Nachmittag zum Abschalten finden.“
„Entspannung muss auch mal sein.“
Mio lacht.
„Sowas aus deinem Mund“, sagt er.
Ich kuschle mich an ihn.
„Ich mache ein Nickerchen“, beschließe ich.
Er lächelt und nickt. Um es mir bequemer zu machen, legt er sich neben mich, sodass ich unter seine Armbeuge passe.
„Das ist so schön“, flüstere ich, bevor ich ins Reich der Träume wandere …
**********
Ring Ring. Mein Wecker. Hundemüde hebe ich den Arm und tippe auf dem Handy herum, bis ich die richtige Stelle treffe und das nervige Geräusch verstummt. Mit geschlossenen Augen drehe ich mich auf den Rücken. Es fehlt nicht viel und ich würde wieder einschlafen. In dem Moment klingelt der zweite Wecker. Ich schrecke hoch. Eilig verlasse ich mein Bett und gehe ins Badezimmer. Auf dem Weg kommt mir Milan entgegen. Er hat sich die Zahnbürste in den Mund gesteckt und telefoniert gleichzeitig mit Caro, seiner neuen Flamme. Ich verdrehe genervt die Augen und kann nur den Kopf über meinen Mitbewohner schütteln.
Jetzt heißt es schnell fertig machen für die Schule. Aber irgendwie verfranse ich mich, denn gerade, als ich zur Tür hinausgehe, sehe ich meinen Bus vorbeifahren.
„Soll ich dich mitnehmen?“, fragt Milan und grinst breit.
Er hat nach mir die Wohnung verlassen und das Dilemma bemerkt.
„Würdest du das tun?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Sonst hätte ich nicht gefragt. Los, steig ein. Dafür gehst du heute einkaufen.“
„Wenns sein muss“, nörgle ich und lasse mich von ihm in die Schule chauffieren.
Sie liegt in der Nähe von der Pizzeria, in der er arbeitet.
Meine Klassenkameradin Mia wartet vorm Haupteingang auf mich. Sie kennt Milan und behauptet, ich sei heimlich in ihn verliebt. Das ist nicht wahr. Er ist so etwas wie ein großer Bruder für mich. Aber umso mehr ich ihren Verdacht abstreite, desto mehr glaubt sie daran. Deswegen ignoriere ich dieses Thema.
Die ersten Stunden haben wir BWL. Das ist langweilig, aber ich muss es belegen, will ich am Ende des Jahres mein Abi absolvieren.
Mia zupft sich genervt an den Haaren, als wir ins Klassenzimmer gehen.
„Ich hab heute Badhairday. Über ’ne Stunde stand ich im Bad und die sitzen immer noch nicht“, klagt sie.
„Du siehst nicht anders aus als sonst.“
„Ist das gut oder schlecht?“
„Wer weiß“, kichere ich und werde von ihr schmunzelnd gegen die Schulter geboxt.
Ich möchte zu meinem Platz gehen, der sich in der vorletzten Reihe befindet. Ich sitze allein, da Mia mir zu viel im Unterricht quatscht. Sie kann meine streberhafte Art nicht nachvollziehen. Jedoch ist meine Bank heute nicht leer wie sonst. Ein fremder Typ lässt mich verwirrt aufsehen. Er tippt auf seinem Handy und bemerkt mich nicht sofort.
„Hast du dich verlaufen?“, frage ich.
Er schaut mich an. Mir fallen seine blauen Augen auf.
‚Wow, ist der süß‘, denke ich.
„Ähm, entschuldige … Ich bin neu und die anderen sagten mir, dass hier noch frei ist. Ich hoffe, die haben mich nicht verarscht.“ Er verweist auf zwei Jungs aus der Klasse, die blöd grinsen.
„Ich wusste gar nicht, dass wir einen Neuen bekommen“, antworte ich und gehe an ihm vorbei, um mich zu setzen.
‚Mein Einzelplatz ist ab jetzt wohl Geschichte …‘
„Wie heißt du?“, frage ich.
Bevor er mir antworten kann, mischt sich Mia ein. Sie beugt sich über die Bank und hält ihm ihr Dekolleté unter die Nase. Ich verdrehe genervt die Augen, als ich seinen Blick bemerke. Natürlich glotzt er Mias große Brüste an.
‚Kerle sind doch alle gleich.‘
„Na, wer bist du denn?“, fragt Mia und lächelt freundlich.
„Ich heiße Emilio.“
„Ich bin Mia. Das ist Raxia. Sie ist eine absolute Streberin und die Klassenbeste, musst du wissen. Hast es neben ihr also gut getroffen. Aber mach dir keine Hoffnung. Sie lässt nicht abschreiben.“
„Dich sowieso nicht“, antworte ich und strecke ihr die Zunge raus.
Mia kichert. Offenbar hat sie Gefallen an dem Neuen gefunden. Sie setzt sich mit dem Hintern auf unseren Tisch und präsentiert ihre weiblichen Rundungen. Ich kenne ihren Balztanz zur Genüge. Mia hatte schon sehr viele Freunde. Ich keinen einzigen.
„Wieso bist du denn erst jetzt in unsere Klasse gewechselt? Das Schuljahr läuft bereits seit einem Monat“, fragt sie interessiert.
„Hat sich so ergeben.“
Mia wirft einen Blick auf sein Handy.
„Ach, wie interessant. Das Game zocke ich auch gerade.“
‚Ja, von wegen‘, denke ich und blende das weitere Gespräch der beiden aus.
**********
In der Pause fragen die Jungs, ob Emilio mit zum Rauchen kommt. Er lehnt ab. Offenbar scheint es ihm nicht wichtig zu sein, Anschluss zu finden. Er ist mehr der introvertierte Typ. Ein Glück, denn so habe ich im Unterricht meine Ruhe.
„Du hängst oft am Handy“, stelle ich fest.
„Findest du?“
„Ja. Kannst du so überhaupt zuhören?“
„Das, was wichtig ist, steht an der Tafel“, antwortet er.
„Oh, das hört Raxia nicht gern“, kichert Mia.
Sie rückt Emilio wieder auf die Pelle. Ich erhebe mich genervt von meinem Platz.
„Ich will ein gutes Abi, sonst ist die Zeit hier verschwendet“, antworte ich und verlasse das Zimmer, weil ich zur Toilette will.
Wieder zurück sitzt Mia auf meinem Stuhl und wirft Emilio eindeutige Blicke zu. Er interessiert sich jedoch mehr für sein Handy. Innerlich muss ich lachen.
‚Der wird Mia wohl nicht ins Netz gehen.‘
BWL geht weiter. Ich höre gelangweilt zu, bis meine Gedanken abschweifen. Die verärgerte Stimme unseres Lehrers bringt mich zurück. Alle Augen haften auf mir.
„Äh …“
„Rückwärtskalkulation“, flüstert Emilio hinter vorgehaltener Hand. Zögernd wiederhole ich seine Antwort. Der Lehrer gibt sich zufrieden. Ich atme tief durch.
„Danke“, flüstere ich aufrichtig.
Emilio lächelt, bevor er sich wieder seinem Handy widmet, dass er unterm Tisch versteckt hält.
Fasziniert beobachte ich ihn.
‚Wie kann er gleichzeitig zocken und zuhören? Ich war nur in Gedanken und habe alles um mich herum vergessen.‘
**********
Nach dem Unterricht hole ich Emilio vor der Schule ein. Er ist auf dem Weg nach Hause. Ich muss eigentlich mit dem Bus fahren, jedoch will ich ihm zum Dank wegen BWL auf ein Eis einladen.
„Ich habs gern gemacht, aber auf ein Eis hätte ich schon Lust“, antwortet er fröhlich.
„Ich kenne eine gute Eisdiele. Komm mit.“
„Okay.“
„Raxia?“, ertönt Mias Stimme.
Ich finde es merkwürdig, dass sie noch nicht in der Turnhalle ist, sondern mir nachgelaufen kommt. Sie hätte jetzt eigentlich Tanztraining.
„Was ist?“, frage ich.
„Emilio, entschuldigst du uns kurz?“
Sprachlos hebt er die Schultern. Mia bedankt sich und zieht mich mit. Wir stecken ein paar Meter von Emilio entfernt die Köpfe zusammen.
„Was sagt Milan denn dazu, dass du dich an den Neuen ranmachst?“
„Mia, hör auf. Ich mache mich weder an Emilio ran, noch interessiert es meinen Mitbewohner, mit wem ich mich treffe. Du kannst Emilio haben, wenn er dir gefällt.“
„Nein, er ist mir zu langweilig“, seufzt sie. „Er sieht zwar echt gut aus, aber einen Typen, der nur sein blödes Handy im Kopf hat, brauche ich nicht. Ich hab mir nur Sorgen wegen deiner Beziehung gemacht.“
„Ich bin in keiner Beziehung. Hör endlich auf damit.“
„Dabei ist Milan schon so richtig erwachsen. Mit Job, eigenem Auto, einer Wohnung …“
„Und einer Freundin, die sicher nicht begeistert wäre, würde sie dich jetzt reden hören.“ Ich wende mich von Mia ab. „Wir sehen uns morgen in der Schule.“
„Ja, vergiss bitte am Freitag nicht meinen Wettkampf. Das große Tanzturnier meines Vereins steht an.“
„Du erinnerst mich jeden Tag daran, seit zwei Wochen. Mia, ich werde da sein.“
„Du musst mich anfeuern.“
„Mit Pauken und Trompeten.“
Zufrieden hebt sie den Daumen in die Luft. Ich lache, wir geben uns ein Küsschen und verabschieden uns. Schnell laufe ich zu Emilio zurück. Er steckt sein Handy weg.
„Sorry. Mia ist manchmal etwas seltsam“, sage ich.
„Uns hetzt doch nichts.“
Ich gehe mit Emilio ins Luigi’s. Die Pizzeria hat das beste Eis der Stadt, wie ich finde. Außerdem bekomme ich Rabatt, weil Milan hier arbeitet und gerade Schicht hat. Ich stelle ihm Emilio vor. Milan grinst.
„Weißt du, was du dir antust?“, fragt er lachend.
Emilio wirkt verwirrt. Ich boxe Milan wütend gegen den Arm.
„Hör auf zu stänkern.“
Er lacht.
„Siehst du? Zickig hoch drei und dabei hat sie gerade nicht ihre Tage.“
„Du Idiot!“ – ‚Wie peinlich ist das denn! Mann! Warum bin ich nochmal hierhergekommen?‘
… mit dem Eis in der Hand verlassen wir die Pizzeria. Ich bin beschämt. Milans Sprüche sind nicht besser geworden, während er uns die Eiskugeln in die Waffeln gepackt hat.
„Ist das dein Bruder?“, fragt Emilio, während wir den Weg zum Park einschlagen.
„Nein, mein Mitbewohner.“
„Du wohnst nicht zu Hause?“
„Nein, ich wollte hier unbedingt zur Schule gehen, deshalb verließ ich meine Heimat und habe mir eine Wohnung gesucht. Die WG kann ich mir leisten und Milan ist meistens ziemlich nett.“
„Seid ihr zusammen?“
„Nein!“, rufe ich sauer, aber entschuldige mich sofort. „Sorry, du kannst es ja nicht wissen. Mia zieht mich ständig damit auf, ich wäre in Milan verschossen. Das ist aber nicht so.“
„Okay – wir sind übrigens da.“ Er zeigt zum Teich. „Da drin ist sie.“
„Die Wasserschildkröte, von der du erzählt hast?“
Wir nähern uns dem Teich und setzen uns ins Gras. Das Eis ist schnell verputzt. Die Schildkröte taucht jedoch nicht auf. Ich hole mein Schulzeug aus dem Rucksack.
„Machst du Hausaufgaben?“, fragt Emilio.
„Ja, ich will die erledigt wissen. Stört dich hoffentlich nicht?“
„Nö“, antwortet er und kramt ebenfalls in seinem Rucksack. „Wir können sie zusammen machen.“
„… dein Ernst?“
„Äh … ja?“ Er lacht. „Warum guckst du so?“
„Weil die meisten genervt reagieren, wenn ich mein Pflichtbewusstsein nicht abschalten kann.“
„Ich bin nicht die meisten“, schmunzelt er und wir machen tatsächlich im Park gemeinsam unsere Hausaufgaben. Zwischendurch lässt sich sogar kurz die Schildkröte blicken. Emilio macht gleich ein paar Fotos. Stolz präsentiert er mir seine Sammlung.
„Ich liebe Schildkröten“, sagt er. „Leider habe ich keinen Platz, eine als Haustier zu halten. Meine Wohnung ist winzig. Aber irgendwann möchte ich welche züchten.“
Ich wische mich durch seinen Ordner und bleibe an einem Bild hängen, auf dem er mit einem anderen Jungen zu sehen ist. Der andere ist etwas größer als Mio und hat den Arm um ihn gelegt. Die beiden sitzen auf einer Bank und wirken sehr vertraut.
„Hast du einen Bruder?“, frage ich.
„Nein. Das ist Silas, mein Freund.“
„Dein Freund?“
„Ja.“
„E-ein fester Freund oder ein Kumpel?“
„Fester.“
„Dann bist du schwu- … äh, homosexuell?“
„Kommt drauf an.“
„Hä?“
„Na, wie ich mich fühle. Manchmal bin ich schwul, manchmal lesbisch – an anderen Tagen bin ich eine Frau und ziehe Kleider und hohe Schuhe an.“
Mein Gesicht muss Bände sprechen, denn Emilio fängt lauthals an zu lachen.
„Ich hab dich verarscht, Raxia“, kichert er. „Ich hab früher Fußball gespielt und Silas war von der Schülerzeitung. Wir mussten für das Foto so posieren.“
„Ich glaubs ja nicht“, antworte ich und schließe mich Emilios Lachen an. „Du Arsch“, meckere ich dabei.
„Tut mir leid, aber das hat sich einfach angeboten.“
„Dass ich darauf reingefallen bin, obwohl du heute Mias Brüste so intensiv angestarrt hast. Ich bin echt doof.“
„Ich hab die nicht angestarrt.“
„Klar hast du.“
„… na gut, vielleicht ein bisschen.“
„Ihr Kerle seid alle gleich. Aber mach dir keine Hoffnung. Mia findet dich langweilig, weil du nur am Handy hängst.“
„Tue ich das?“
„Na, gerade nicht. In Wahrheit bist du bestimmt ein übler Suchti und musstest die Schule wechseln, weil du gemobbt worden bist.“
„Du hast eine rege Fantasie.“
„Sagt der Richtige, Mr. Divers.“
Wir kichern, bis Emilios Handy plötzlich klingelt. Er drückt den Anruf weg. Verwirrt sehe ich ihn an.
„Willst du nicht rangehen?“
„War nicht wichtig.“
„Wer war es denn?“
„Du bist neugierig“, lenkt er ab.
„Und du weichst meinen Fragen aus.“
„Findest du?“
Emilio steht auf. Er reicht mir die Hand, damit ich es leichter habe.
„Musst du nach Hause?“, frage ich.
„Nö. Auf mich wartet niemand.“
„Hast du vielleicht Lust noch mit mir einkaufen zu gehen? Ich musste es heute Milan versprechen. Er hat mich zur Schule gefahren, weil ich meinen Bus verpasst habe.“
„Klar, kann ich machen.“
**********
Es dämmert, als wir mit den vollgeladenen Einkaufsbeuteln bei mir zu Hause ankommen. Emilio ist so nett und hilft mir beim Tragen. Zum Dank lade ich ihn zum Abendessen ein.
„Eis und Abendessen. Ich glaube, ich helfe dir öfter“, schmunzelt er.
„Gern. Mia ist keine große Hilfe, wenn es ums Schleppen von Einkaufstaschen oder richtige Antworten in der Schule geht.“
„Verständlich. Ein Nagel könnte abbrechen.“
„Lästerst du etwa?“
„Nein. Wie kommst du darauf?“
Er grinst. Ich verstaue die Einkäufe in der Küche. Emilio sieht sich neugierig um.
„Eure Wohnung gefällt mir“, meint er.
„Ich hab diese Woche Putzdienst. Wenn Milan dran ist, sieht es hier nicht ordentlich aus.“
Sein Handy klingelt schon wieder. Als wir im Supermarkt waren, rief ihn dreimal jemand an. Jedes Mal legte er auf. Auch diesen Anruf drückt er weg.
„Das nervt“, mische ich mich ein. „Wieso gehst du nicht ran?“
„Was gibt es zum Abendessen?“
Ich rolle mit den Augen.
„Ist das vielleicht deine Freundin, die sich Sorgen um dich macht?“
„Wer weiß.“
Er lächelt und stellt sein Handy auf stumm, bevor er es in der Hosentasche verschwinden lässt.
„Soll ich was kochen?“, bietet er an.
„Ich übergehe jetzt einfach mal diesen ominösen Anrufer.“
„Auf was hast du Lust?“
„Du weißt doch gar nicht, was wir haben.“
„Aber ich weiß, was du eingekauft hast.“
„Na gut, dann koch was. Aber versprich, dass deine eifersüchtige Freundin nicht in ein paar Minuten dein Handy ortet und hier aufkreuzt.“
„Keine Sorge, wird sie nicht.“
„Dann existiert wirklich eine eifersüchtige Freundin!“
„Wer weiß.“
„Sprich doch nicht dauernd in Rätseln, Emilio.“
„Mio“, sagt er gleichgültig und räumt die Einkaufstüten leer. „Du musst nicht immer meinen vollen Namen sagen.“
„… du bist ein komischer Kauz.“
„Findest du?“
Schweigend ziehe ich mich auf die Anrichte und beobachte ihn beim Zubereiten des Abendessens. Nachdem ich ihm gesagt habe, wo er welche Utensilien findet, legt er los. Ich stelle fest, dass er routiniert in der Küche ist.
In der Zwischenzeit kommt Milan nach Hause. Er hat Caro mitgebracht. Ich sehe sie zum ersten Mal. Ihre langen blonden Haare und der große Busen stechen mir als erstes ins Auge. Sie sieht sehr schön aus. Milan hat nicht übertrieben, als er von ihr schwärmte.
„Den kenn ich doch“, meint er, als er Mio wiedersieht. „Hab ich dich nicht ausreichend vor ihr gewarnt?“
„Lass das“, knurre ich und Mio lacht.
„Stell mal lieber deine Freundin vor“, fordere ich Milan auf.
„Muss ich das noch?“
Stolz legt er seinen Arm um Caro und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. Sie kichert und schüttelt mir höflich die Hand. Ihr Lächeln ist zum Dahinschmelzen.
„Hi, ich bin Caro.“
„Raxia.“
Sie schnuppert in der Luft.
„Hier riecht es aber gut“, stellt sie fest.
„Mio kocht was.“
„Oh, was gibt es denn?“, fragt sie.
Mio lächelt.
„Lass dich überraschen.“
**********
Die Überraschung glückt. Er kocht ein köstliches Abendessen. Milan und Caro machen den Abwasch und verschwinden in ihr Zimmer, während ich mit Mio noch einen Film ansehe.
„Wie kann es sein, dass du den Streifen noch nicht kennst?“, frage ich fassungslos.
Er hebt die Schultern.
„Ich seh nicht oft fern.“
„Trotzdem!“
„Jetzt lerne ich ihn kennen.“
„Wird auch Zeit.“
Das Wohnzimmer grenzt an Milans Schlafzimmer. Es dauert nicht lang, bis wir gewisse Geräusche vernehmen. Ich versuche es zu ignorieren, jedoch ist Caro einfach zu laut.
„Ist das peinlich“, flüstere ich und fühle mein rotes Gesicht. Mio greift sich die Fernbedienung und stellt den Ton so laut, bis wir Caro nicht mehr hören. Die Stimmung ist hin. Den Film sehen wir trotzdem bis zum Schluss. Danach verabschiedet sich Mio.
„Hat Spaß gemacht“, sagt er.
„Ja, hätte nicht gedacht, dass wir uns so gut verstehen.“
„Warum?“
„Nur so.“ – ‚Weil hübsche Typen mich eigentlich immer langweilig finden.‘
„Wenn du magst, kannst du auch gern mal zu mir nach Hause kommen. Dann hätten wir mehr Ruhe.“
Er wird ein bisschen rot über der Nase. Ich schmunzle und stimme nickend zu.
„Morgen?“, frage ich.
„Gern.“
„Aber sag deiner eifersüchtigen Freundin, dass ich nur eine Klassenkameradin bin.“
Mio gibt mir keine Antwort, sondern winkt und wünscht mir Gute Nacht. Ich schließe hinter ihm die Wohnungstür und seufze glücklich. Das ist das erste Mal, dass ein Junge, der zudem noch gut aussieht, solange mit mir ausgehalten hat. Ich bin happy. Wirklich schade, dass er schon vergeben ist …
KAPITEL 2
„Und der ist echt bis in die Nacht geblieben?“, fragt Mia am nächsten Morgen. Ich habe ihr von meinem Tag mit Mio erzählt.
„Ja. Er kann echt gut kochen.“
„Aber hing er nicht die ganze Zeit am Handy?“
„Nein. Seine Freundin rief zwar dauernd an, aber nachdem er es stumm geschalten hat, rührte er es nicht einmal an.“
Mia stoppt.
„Moment, seine Freundin?“, hakt sie nach.
„Ja.“
„Du hast dich mit einem Typen getroffen, der vergeben ist?“
Ich rolle mit den Augen.
„Zwischen uns ist nichts, okay? Und auch mit Freundin wird es ihm ja wohl gestattet sein, Klassenkameraden zu treffen.“
„Äh, du hast gerade gesagt, ihr habt bis in die Nacht hinein zusammengehangen. Was würdest du sagen, würde dein Freund solange bei einem fremden Mädchen sein und deine Anrufe ignorieren?“
„Dazu müsste ich einen Freund haben“, knurre ich und laufe in die Schule. „Du hast eine zu große Fantasie, Mia.“
„Du verläufst dich da in was! Verbrenn dir nicht die Finger“, ruft sie mir nach.
Im Klassenzimmer halte ich Ausschau nach Mio. Er ist nicht da. Anfangs denke ich mir nicht viel dabei, jedoch taucht er auch den Rest des Tages nicht auf. Mia macht darüber Witze, doch ich sorge mich um ihn. Er wirkt nicht wie ein Schulschwänzer.
Besorgt wähle ich seine Nummer, die er mir gestern eingespeichert hat. Ich erreiche jedoch nur die Mailbox. Kurz bin ich gewillt, ihm eine Messenge zu schicken, doch denke ich schnell an seine eifersüchtige Freundin. Wenn sie sein Handy checkt, wäre das eine dumme Idee. Ich will ihm keine Probleme bereiten. Niedergeschlagen verfolge ich den restlichen Unterricht und gehe anschließend allein nach Hause.
**********
Ich höre die restliche Woche nichts von Mio und bin stinksauer. Mir wird klar, dass seine Freundlichkeit nur vorgespielt war und er mich in Wahrheit sicher ätzend finden muss. Aber deswegen gleich die Schule zu boykottieren? So ein Idiot.
… das sind meine Gedanken, als ich am Freitag zu Mias Tanzturnier gehe. Hätte ich es ihr nicht versprochen, wäre ich daheim geblieben. Meine Lust auf Spaß ist beschränkt. Trübsalblasen ist mir lieber.
Das Turnier findet in der Turnhalle statt. Es ist kein großes Event, aber Mia hat lange darauf hingearbeitet. Ich gönne ihr den Ruhm, auch wenn sie leider nur den vierten Platz belegt. Dafür hat sie in ihrem Tanzpartner einen neuen Freund gefunden. Über beide Ohren strahlend, stellt sie mir den Typen nach dem Wettbewerb vor. Ich spiele die begeisterte Freundin, obwohl mich gerade jedes männliche Wesen an Mio erinnert und deswegen ankotzt.
Die beiden laden mich zur After-Party im Luigi’s ein. Ich lehne dankend ab und schiebe die Schule vor. Mia verdreht genervt die Augen.
„Es ist Wochenende“, nörgelt sie.
„Und wir schreiben am Montag einen wichtigen Test. Ich wünsche euch viel Spaß.“
„Irgendwann bist du alt und wirst bereuen, dass du nie mit uns feinern warst! Wie willst du denn so einen Typen kennenlernen?“
„Ich will keinen kennenlernen. Die Schule fordert mich genug.“
„Komm, lass sie“, sagt Mias Freund.
Er knabbert ihr am Hals. Ich wende mich beschämt ab und wünsche ihnen einen schönen Abend, bevor ich verschwinde.
‚Die sind alle doof. Mia ist doof, ihr Typ ist doof, und Mio ist am blödsten!‘
Mein Handy klingelt. Zornig fische ich es aus der Tasche. Die Nummer ist unterdrückt. Ich ignoriere sie. Weiter auf den Bus wartend, klingelt mein Handy ein zweites Mal: unbekannte Rufnummer. Diesmal nehme ich an. Als ich die Stimme am anderen Ende höre, fühle ich meinen Zorn auflodern.
„Hi, sorry, weil ich mich erst jetzt melde.“
Mio.
Ich lege auf. Es klingelt wieder.
‚Einfach ignorieren‘, denke ich, aber halte es nicht durch. Beim dritten Anruf gehe ich erneut ran und schnauze ihn an.
„Ich geb dir eine Chance, dich zu erklären. Dannach lass mich in Ruhe!“
„Ich sag dir alles. Können wir uns sehen?“
„Es ist nach 20 Uhr.“
„Morgen ist Samstag. Möchtest du zu mir kommen? Ich würde dir zur Entschuldigung auch was kochen.“
„Unverschämt bist du überhaupt nicht, oder?“
„Bitte. Ich weiß, dass ich Mist gebaut hab.“
„Das ist noch untertrieben“, knurre ich und füge mich meiner Neugier.
„Ich weiß nicht, wo du wohnst“, antworte ich.
„Ich schick dir meinen Standort im Messenger. Bis gleich. Und danke.“
„… du wirst viel kochen müssen, damit ich dir verzeihe.“
**********
Mio wohnt im Neubaugebiet. Die Wohnungen sind sehr preiswert und bei Studenten beliebt. Seine liegt im Dachgeschoss und besteht aus einem Zimmer und einem Bad. Ausgelaugt lasse ich mich auf seine Couch sinken. Warum ich hier bin, weiß ich nicht. Meine Wut auf Mio ist nicht verschwunden. Trotzdem will ich hören, was er mir zu sagen hat. Ist das verrückt?
„Du hättest mir sagen müssen, dass du im sechsten Stock wohnst und es keinen Fahrstuhl gibt“, schnaufe ich.
„Ich hatte Angst, du würdest dann nicht kommen“, sagt er unsicher und sieht dabei viel zu süß aus. Bevor ich seinem Charme erliege, fordere ich die ausstehende Erklärung ein.
„Wollen wir nicht vorher essen?“, fragt Mio.
„Hör auf auszuweichen“, erwidere ich wütend. „Es ist nicht so, dass ich mir Sorgen um dich gemacht hätte, aber einfach ignoriert zu werden, ist absolut bescheuert. Ich kam mir die letzten Tage total dämlich vor.“
„… tut mir leid.“
„Jetzt sag mir die Wahrheit, sonst bin ich weg. Ich bin nicht so doof, dass ich auf ein paar leere Worte hereinfalle und dir vergebe.“
Mio setzt sich neben mich auf die Couch, aber meidet meinen Blick, bevor er schwerfällig berichtet.
„Ich war in meiner Heimat bei der Beisetzung meines Vaters. Es gab ein paar Schwierigkeiten wegen des Testaments, deswegen bin ich erst heute morgen wieder nach Hause gekommen. Deinen Anruf habe ich nicht bemerkt, weil ich – auch wenn du es mir vielleicht nicht glaubst – mein Handy ausgeschalten hatte.“
„Dein Vater ist gestorben?“
Was für eine Wendung. Ich fühle mich ganz elend. Wie konnte ich nur denken, Mio wäre ein Arschloch? Ich schäme mich in Grund und Boden.
„Er war krank. Aber keine Angst. Wir hatten kein enges Verhältnis. Ich bin nicht traurig, weil er tot ist. Eigentlich ist es eine Erleichterung.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
„Dass du mir verzeihst, würde mir schon reichen.“
Er lächelt mich schüchtern an.
„Ich hätte dich gleich zurückgerufen, hätte ich deinen Anruf bemerkt. Ehrlich. Aber irgendwie ging mir wegen der Beerdigung und dem Testament zu viel durch den Kopf, sodass ich vergaß, dir Bescheid zu geben. Das tut mir leid.“
„Hör auf, dich zu entschuldigen“, seufze ich. „Ich muss dich um Verzeihung bitten. Da machst du so eine schwere Zeit durch und ich dumme Kuh denke nur an mich und hab Angst, du könntest mich langweilig finden.“
„Ich finde dich nicht langweilig“, antwortet Mio überrascht. „Du bist das komplette Gegenteil von langweilig.“
Ich werde rot.
„Ach, lass. Die Streberin, die nur das Lernen im Kopf hat. Ich kenne das zur Genüge.“
„Ich mag, dass du dein Ziel verfolgst.“
„Hör auf zu schleimen. Ich hab dir schon vergeben.“
„Wirklich? Dann nehm ich das zurück“, meint er im Spaß und ich stimme in sein Lachen ein.
Danach herrscht kurz Stille. Mio beschließt das Abendessen zu kochen, bevor die Ruhe zu unangenehm wird. Ich habe nichts dagegen einzuwenden und lasse alles erstmal sacken. Es macht mich neugierig, in welchen Familienverhältnissen er lebt. Seine Wohnung macht mir nicht den Eindruck, als hätte er sie von seinen Eltern bekommen. Ob er sich von seiner Familie abgewandt hat?
„Wie alt bist du eigentlich?“, frage ich ihn.
„Neunzehn. Und du?“
„Achtzehn.“
Ich hole tief Luft.
„Was macht deine Freundin?“ – ‚Ich kann die einfach nicht vergessen …‘
„Nichts.“
„Weiß sie, dass ich hier bin?“
„Nein.“
„Hast du ihr von unserem Treffen am Montag erzählt?“
„Nein“, antworter er erneut.
„Warum nicht?“
„Magst du Tomaten? Ich kann welche an die Soße machen.“
„Antworte, sonst geh ich auf der Stelle.“
Mio muss einsehen, dass Ablenken nichts bringt. Ich bleibe bei meiner Meinung.
Als ich mich vom Sofa erhebe, weil ich meine Drohung in die Tat umsetzen will, rückt er endlich mit der Sprache raus.
„Ich weiß nicht, wie ich mit ihr schlussmachen soll“, gibt er zu.
„Ist das dein Ernst?“
Er nickt betröppelt.
„Ich verletze andere Menschen nicht gern. Dass ich deinen Anruf verpasst habe, wird trotz deiner Vergebung noch lange an mir nagen. Das ist wohl meine Macke.“
Was soll ich Mio antworten? Einerseits mache ich Luftsprünge, weil er offensichtlich die Nase voll von seiner Freundin hat, andererseits beunruhigt es mich, dass mir die Sache so nahe geht. Will ich was von ihm? Bisher war ich noch nie verliebt. Es gab kleine Schwärmereien, aber aus denen ist nie etwas geworden. Ich kannte bisher keinen Typen, dem meine strebsame Art gefiel. Zudem lockt mein flacher und dünner Körper die Männer auch nicht gerade hinterm Ofen hervor. Kann ich Mios Signalen vertrauen oder verarscht er mich?
„Wenn ich dir helfe, machst du dann mit ihr Schluss?“, frage ich nervös.
Mio schaut vom Herd auf.
„Das würdest du tun?“, fragt er.
„Ich würde dir helfen. Sie zu ignorieren ist keine Dauerlösung.“
„Ich hatte gehofft, sie würde so irgendwann die Nase voll haben und von selbst aufhören.“
„Das ist eine blöde Taktik, du Feigling.“
„… ich weiß“, seufzt er.
„Los, lass das Abendessen ruhen und ruf sie an. Stell das Gespräch laut. Ich schreib dir auf, was du antworten kannst, um sie zu schonen.“
„… kennst du dich damit aus?“
„Nein, aber ich bin ein Mädchen. Ich kann mir denken, was sie nicht hören will. Nun los, bevor ich es mir anders überlege.“
„Okay, okay.“
Ich hole etwas zu Schreiben aus meinem Rucksack, während Mio sich auf die Couch setzt und den Anruf startet. Seine Hand zittert. Offenbar ist er nervös und hat die Wahrheit gesagt. Hoffentlich habe ich ihm nicht zu viel versprochen. Ich habe noch nie eine Beziehung beendet.
„Du lebst also noch, du treulose Tomate!“, meckert eine Frauenstimme am anderen Ende.
„Tut-tut mir leid. Ich …“ Er sieht mich hilfesuchend an.
Ich schreibe eine Antwort auf das Blatt, die Mio vorliest.
„Ich muss dir etwas sagen.“
„Und was? Wie wäre es mit einer Entschuldigung?“
„Es tut mir leid, aber ich möchte unsere Beziehung beenden“, liest er ab.
„Wie bitte?!“
„E-es tut mir leid, aber …“
„Was soll das? Du meldest dich ewig nicht und wenn doch, sagst du, du hättest viel zu tun. Ich war nicht einmal in der Wohnung, obwohl du mir versprochen hast, mich einzuladen. Und jetzt – holter die polter – machst du mit mir Schluss, obwohl wir erst vorgestern bei der Beerdigung deines Alten waren. Warum?! Sag es mir! Was hab ich getan? Der Sex gestern war doch gut! Wieso willst du auf einmal mit mir schlussmachen?“
‚Der Sex war gut?‘
Stinksauer sehe ich Mio an. Er wartet auf meinen Antwortvorschlag, aber da kann er lange warten. Wütend stemme ich die Hände in die Hüften.
„Du Arsch! Wenn du von Anfang an wusstest, dass du schlussmachen willst, warum gehst du noch mit ihr ins Bett?“
„Mio, wer ist das?!“
„Äh …“ Ihm bleibt vor Schreck die Sprache weg.
„Sag mir sofort, welche Frau da geredet hat! Wo bist du gerade?“
„Ich bin nur eine Klassenkameradin. Und ich werde jetzt gehen.“
„N-nein, Raxia. Bitte, du hast mir versprochen …“
„Klär deine Sachen selbst. Wer so fies ist und ein Mädchen ausnutzt, obwohl er sie nicht mehr liebt, kann mir gestohlen bleiben. Es war ein Fehler dir zuzuhören!“
„A-aber …“
„Tschüss!“
KAPITEL 3
Seit diesem Tag treffe ich mich nicht mehr mit Mio. Ob er noch mit seiner Freundin zusammen ist, weiß ich nicht. Wenn die schlau ist, lässt sie dankend die Finger von diesem Ekel. Offensichtlich ist es wirkllich egal, wie lieb oder süß ein Typ auf den ersten Blick wirkt. Im Grunde sind die alle gleich.
Im Frühjahr des nächsten Jahres sagt mir Milan, dass er mit Caro zusammenziehen will. Ich muss mir entweder einen neuen Mitbewohner suchen, oder eine günstigere Wohnung finden. Mia war meine erste Idee, aber sie möchte Hotel Mama weiterhin genießen.
„Die Schule stresst genug. Da hab ich keine Lust, mich auch noch um die Miete zu sorgen.“
Ich schaltete daraufhin eine Anzeige im Internet. Bisher meldeten sich Studenten, die mir durch die Bank weg unsympatisch waren oder pervers erschienen. Der nächste Kandidat hat sich für heute Nachmittag angekündigt.
Ich muss mich beeilen, um nach der Schule pünktlich daheim zu sein. Wenig später klingelt es. Ich kriege beinahe die Krise, als Mio vor der Tür steht.
„Was willst du hier? Ich hab weder Zeit, noch Lust dich zu sehen.“
Schweigend hält er mir sein Handy vor die Nase mit der Anzeige, die ich geschalten habe. Mir klappt die Kinnlade runter.
„Das kannst du sowas von vergessen“, antworte ich.
„Meine Wohnung wird mir zu teuer“, sagt er bedrückt.
„Ist das mein Problem? Bei mir wohnst du nicht.“
Ich knall ihm die Tür vor der Nase zu. Seine Stimme werde ich dadurch aber nicht los.
„Bitte, Raxia. Ich war doch nur mit Nele zusammen, weil ihre Eltern mir die Wohnung bezahlt haben.“
„Du hast dich von ihr aushalten lassen? Das wird ja immer schlimmer!“
„Nein, so war das nicht … Lass mich bitte rein, damit ich es dir erklären kann.“
„Ich will es nicht hören.“
„Bitte.“
„Geh nach Hause.“
Ich bleibe stur. Mio ist bei mir unten durch. Sämtliche Erklärungen kann er sich sparen.
**********
Auch zwei Wochen später habe ich keinen Mitbewohner gefunden. Mir rennt allmählich die Zeit davon. Deswegen suche ich parallel nach einer bezahlbaren Wohnung. Ich muss schnell lernen, dass es aussichtslos ist. Selbst andere, die Mitbewohner suchen, harmonieren nicht mit mir. Es ist zum Heulen.
Mio schwänzt, seit dem Versuch in meine Wohnung zu kommen, die Schule. Früher hätte ich mir Sorgen gemacht. Jetzt freue ich mich, meine Bank zurückzuhaben.
„Komisch. So schlechte Zensuren hatte er doch nicht. Warum bricht er kurz vorm Ende ab?“, fragt Mia in der Pause.
„Ist doch egal.“
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ihr euch gestritten habt.“
„Er ist ein Arsch wie jeder andere.“
„… er hat dir doch aber von Anfang an gesagt, vergeben zu sein. Ich hab dich gewarnt. Hättest du mal auf mich gehört.“
„Ich wollte nichts von ihm“, knurre ich und verlasse den Schulhof.
Mia nervt. Die Schule nervt. Meine Wohnsituation nervt. Am liebsten würde ich eine Auszeit nehmen. Mir wird alles zu viel. Aber die Prüfungen stehen vor der Tür. Ich darf jetzt nicht das Handtuch werfen. Mit meinem Abi möchte ich Agrarwissenschaften studieren und die Welt zu einer besseren machen. Ich muss am Ball bleiben.
Das ist leichter gesagt, als getan. Der Stress nagt an mir. Ich werde öfter von Schwindelanfällen geplagt und finde nachts keinen Schlaf. Das Essen schmeckt mir auch nicht mehr. Alles in mir zehrt nach einer Auszeit, die ich mir einfach nicht leisten kann.
„Wenns zu viel ist, kann ich auch noch einen Monat die Miete übernehmen. Länger ist aber wirklich nicht drin“, bietet mir Milan an.
„Nein, ich schaff das.“
„Sei doch nicht immer so stur.“
„Ich bin nicht stur.“
„Wie ein Bock“, knurrt er, aber kann mich nicht umstimmen.
Und so kommt es, dass ich eine Woche vor der ersten Prüfung auf dem Weg zur Schule einen so heftigen Schwindelanfall bekomme, dass es mir die Beine wegzieht. Ich begreife im ersten Moment nicht, was geschieht. Völlig wehrlos kippe ich um und habe Glück, dass mich jemand auffängt.
„Was hast du?“
Mios Stimme.
„Du schon wieder“, flüstere ich benommen und sehe sein besorgtes Gesicht. Er lässt mich zu Boden und gibt mir Halt. Wir sind wohl die einzigen auf dem Weg, denn andere Menschen kann ich nicht hören.
„Du bist total blass. Geht’s dir nicht gut? Hast du was gegessen?“
Seine Stimme klingt ängstlich.
„Lass mich. Ich kann aufstehen.“
Stur will ich zurück auf die Beine. Es gelingt mir nicht. Ich fasse mir an den Kopf.
„Mir ist so schwindlig.“
„Du musst dich hinlegen und die Beine anwinkeln“, sagt er und zieht sich die Jacke aus, um mich auf sie zu legen. Ich will mich wehren, habe in meinem Zustand jedoch keine Chance. Mir dreht sich alles … Mio kniet sich vor mich und nimmt meine Beine hoch. Nebenbei kramt er in seiner Tasche. Er packt ein Bonbon aus und stopft es mir in den Mund.
„Kau“, sagt er. „Das ist Traubenzucker.“
Willenlos gehorche ich und schlucke das süße Zeug. Er gibt mir danach noch Wasser.
„Liege ich hier gerade wirklich mitten auf der Straße?“, frage ich.
„Dich sieht keiner. Wir sind allein, keine Sorge. Wenn du magst, kann ich einen Krankenwagen rufen.“
„Nein. Ich muss in die Schule.“
„… du solltest dich heute ausruhen.“
„Aber die Prüfungsvorbereitung …“
„Ich bring dir alle Unterlagen heute nach der Schule.“
„Danke.“
Mir fallen die Augen zu. Die Erschöpfung überwiegt.
Als ich wieder zu mir komme, bin ich in meinem Bett. Mir ist immer noch schlecht, aber ich kann wieder laufen, ohne umzukippen.
Es klingelt an meiner Tür. Verwirrt gehe ich, um zu öffnen. Mio steht davor.
„Was machst du hier?“, frage ich.
Er streckt mir einen Hefter entgegen.
„Die Mitschriften. Ich hab dir versprochen, sie nach der Schule vorbeizubringen. Der Briefkasten war mir zu unsicher. Ich wollte wissen, wie es dir geht.“
„Du bist doch schon wochenlang nicht mehr in der Schule gewesen.“
„Ich hab Mia darum gebeten, nachdem ich dich in dein Bett gebracht habe. Ins Krankenhaus wolltest du ja nicht. Was ich gemacht hab, war bestimmt nicht richtig. Ich hatte die ganze Zeit keine Ruhe. Aber jetzt scheint es dir besser zu gehen.“
„… du hast mich … Wie? Wie bist du in meine Wohnung gekommen?“
„Der Schlüssel war in deinem Rucksack.“
„Du bist eingebrochen?!“
„Nein. Ich wollte nur helfen. Ehrlich.“
„Du machst mir langsam echt Angst. Danke, dass du mir geholfen hast, aber jetzt geh bitte.“
Sein Blick wird traurig. Er steckt den Hefter weg und wendet sich ab.
„Ruh dich bitte aus. Zu viel Stress ist nicht gesund“, sagt er und geht.
Ich schließe die Tür und lege mich zurück ins Bett. Dort denke ich noch lange über Mio nach. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.
KAPITEL 4
Sommer. Die Prüfungen sind vorbei. Ich habe alles bestanden und konnte mich erfolgreich in der Uni immatrikulieren. Nur einen Mitbewohner habe ich nicht, weshalb ich mir notgedrungen nach der Schule einen Minijob suche, der ab Herbst mit meinem Studium konform geht. Ich helfe in einer Tankstelle aus. Mia kann über die Entscheidung nur den Kopf schütteln.
„Hättest ruhig mit Mio in eine WG ziehen können. Der hat sich total Sorgen um dich gemacht, als du zusammengeklappt bist.“
„Du weißt es immer besser, nicht wahr?“
„Was das menschliche Miteinander angeht, bin ich dir haushoch überlegen.“
Ich streite Mias Einschätzung nicht ab. Sie hat ja Recht. Bis auf sie habe ich keine Freunde.
Nach Feierabend zieht es mich heute Abend in den Park. Warum auch immer möchte ich nachsehen, ob die Wasserschildkröte noch dort ist, die ich mir letztes Jahr mit Mio angesehen habe. Ein belegtes Baguette von der Tankstelle dient mir als Abendbrot. Gemütlich esse ich es, während ich die letzten Sonnenstrahlen am Teich genieße. Doch plötzlich höre ich zwei bekannte Stimmen. Mir kommt beinahe mein Essen wieder hoch.
‚Das sind Mio und seine Freundin‘, denke ich und verstecke mich umgehend hinter einem Gebüsch. Genau rechtzeitig, denn die Zwei laufen am Teich vorbei.
„Mio, das geht so nicht. Wenn du nicht machst, was ich will, werde ich Mama und Papa sagen, dass sie aufhören sollen, dich in der Wohnung zu lassen. Die gehört immerhin uns, schließlich bezahlen meine Eltern.“
„Ich kann das aber nicht mehr, Nele.“
„Das ist mir egal. Wir passen optisch perfekt zusammen. Ich denke nicht dran, dich gehen zu lassen.“
„… ich werde aus der Wohnung ausziehen.“
„Das kannst du gar nicht bezahlen. Während deiner Schule verdienst du nichts.“
„Ich habe das Abi abgebrochen und mir einen Job gesucht. Das Geld, was ich verdient habe, hab ich gespart. Das reicht für eine kleine Wohnung und ein paar Möbel.“
„Davon träumst du. Wenn du ausziehst, werde ich meinen Eltern sagen, dass sie alles Geld, was sie dir geliehen haben, zurückfordern sollen.“
Das Mädchen bleibt stehen.
„Ich habe keine Ahnung, welche Flausen du bekommen hast, seit du von mir weggezogen bist. Ich dachte, das Abi wäre ’ne gute Idee, damit du mir später mal ein ordentliches Zuhause bieten kannst. Aber offenbar bist du ein Versager.“
„Bin ich nicht! Und mit dir zusammensein will ich auch nicht mehr!“
„Dann kriegst du kein Geld.“
„Behalte dein blödes Geld! Ich hab dich ganz am Anfang geliebt, aber du bist ein egoistischer und berechnender Mensch. Wir passen nicht zusammen. Ich hatte die ganze Zeit Angst, dir die Wahrheit zu sagen, weil ich mich fürchtete, ohne Geld dazustehen. Ich hab keine Familie, die mir hilft. Aber ich kann so nicht weiterleben.“
Sie gibt ihm eine Ohrfeige.
„Ich will diese Worte nicht mehr hören. Du wirst diesen lächerlichen Job aufgeben und zurück mit mir nach Hause kommen. Scheiß auf die Wohnung. Die ist eh runtergekommen und viel zu klein.“
„Ich komm nicht zurück.“
Eine zweite Ohrfeige. Das reicht mir. Ich hab genug gehört. Vergessen ist meine Wut auf Mio. Ich klettere aus dem Gebüsch und gehe auf die beiden zu. Sie bemerken mich nicht sofort. Das ist mein Vorteil. Ich packe Nele an der Schulter und stoße sie von Mio weg. Sie kommt auf ihren Pumps ins Wanken. Nur mit Glück bleibt sie auf den Beinen.
„Was soll das?“, kreischt sie.
„Das frag ich dich!“
„Das geht dich nichts an! Mio, sag dieser Irren, sie soll gehen.“
Das tut er nicht. Stattdessen sieht er mich beschämt mit seiner roten Wange an.
„Was machst du hier?“, fragt er.
„Kennst du die etwa?!“
„Da kann man mal sehen, wie blöd du bist. Erkennst du meine Stimme nicht? Ich war dabei, als er mit dir Schluss gemacht hat.“
„Was?“
„Halt dich aus seinem Leben raus“, fordere ich, bevor ich mir Mios Hand schnappe und mit ihm weglaufe.
Wir hetzen durch den Park bis zu mir nach Hause. Außer Puste sinken wir im Flur zusammen.
„Danke“, keucht Mio.
„Eine Schreckschraube … wie konntest du nur mit ihr zusammensein?“
„… erzähl ich dir, wenn ich wieder Luft bekomme.“
Ich lache und nicke.
Minunten später sitzen wir mit einem Glas Wasser auf der Couch.
„Meine leiblichen Eltern starben, als ich fünf war. Danach kam ich zu meinem Pflegevater, mit dem ich aber kein inniges Verhältnis aufbauen konnte. Irgendwann lernte ich Nele kennen. Sie war nett zu mir und behandelte mich nicht wie einen Aussetzigen, weshalb ich mich in sie verliebte. Ihre Familie war nett. Ich fühlte mich wohl und konnte mich anderen Menschen gegenüber wieder öffnen. Das störte Nele. Sie ist rasend eifersüchtig, wie du mitgekriegt hast. Am Anfang gefiel es mir. Ich kam mir wertvoll vor, weil sie mich nicht verlieren wollte. Aber dann fing sie an, mich zu schlagen, wenn ich nicht nach ihrer Pfeife tanzte. Sie erpresste mich und drohte mir, mich aus ihrer Familie auszuschließen. Ich wollte nicht wieder allein sein, deswegen spielte ich mit. Aber letztes Jahr ging Nele zu weit. Sie verguckte sich in einen Typen aus ihrer Klasse und ging mit ihm ins Bett. Als ich sie erwischte, spielte sie den Ausrutscher herunter. Ich war verletzt, aber gab nach. Beim dritten Ausrutscher konnte ich nicht mehr darüber hinwegsehen. Ich dachte mir die Ausrede aus, in einer anderen Stadt mein Abi nachzuholen, um ihr später mehr bieten zu können. Eine andere Schule würde mich nicht nehmen, log ich.
Nele willigte ein und überredete ihre Eltern, mir die Wohnung zu finanzieren. Sie sind reich und die monatliche Miete bezahlen sie aus der Portokasse. Ich hoffte durch die Distanz irgendwie von ihr loszukommen. Dann starb mein Pflegevater. Auf der Beerdigung traf ich Nele wieder. Sie heulte sich die Augen aus und sagte, sie würde mich vermissen. Sie entschuldigte sich für alles Geschehene. In meinem Wunsch, nicht allein zu sein, gab ich ihr noch eine Chance. Jedoch bereute ich das, nachdem Nele schnallte, dass mein Pflegevater mir kein Erbe hinterlassen hat. Der Mann war hochverschuldet. Mich in seinem Testament zu erwähnen, war wohl sein letzter fieser Zug.“
Mio sieht mich entschuldigend an.
„Ich weiß, dass das kein Grund ist und es falsch war, mit ihr ins Bett zu gehen. Aber hätte ich abgelehnt, hätte sie alles in die Wege geleitet, damit ich die Wohnung verliere.“
„Wieso hast du dir das gefallen lassen und dich nicht gewehrt?“
Mio seufzt.
„Soll ich eine Frau schlagen?“, fragt er.
„Du hättest dir Hilfe suchen müssen!“
„Bei wem? Ich hab doch niemanden.“
„Aber- …“
Er würgt mich ab.
„Danke, dass du mir die Chance gegeben hast, dir alles zu erklären. Ich habe jetzt zwar kein Abi, dafür aber einen Job, von dem ich mir eine eigene Wohnung leisten kann. Wenn ich sparsam bin, kann ich nach und nach die Schulden, die ich bei Neles Eltern habe, abbezahlen und irgendwann von ihr loskommen. Ich bin dir wirklich dankbar, Raxia. Letzten Endes warst du der Auslöser, endlich einen Schlussstrich zu ziehen.“
„Aber ich hab doch gar nichts gemacht.“
„Du hast mich mit deinem starken Willen tief beeindruckt. Es ist dir egal, was andere von dir halten. Du lebst dein Leben. Ich wünschte, ich wäre auch so stark. Aber vielleicht schaffe ich das jetzt, wo ich endlich finanziell auf eigenen Beinen stehe.“
„Mio …“
Mir kommen plötzlich die Tränen. Das war zu viel Lob, das ich nicht verdiene. Ich dumme Kuh hab ihn völlig falsch eingeschätzt und verurteilt, obwohl ich nie alle Fakten kannte. In meiner Sturheit konnte ich nur schwarz und weiß sehen.
„Oh Gott. Hab ich was Falsches gesagt? Warum weinst du denn?“, fragt er erschrocken.
„Es tut mir leid. Ich hab dir nicht zugehört. Ich bin eine ganz miese Klassenkameradin.“
Mio nimmt mich zögernd in den Arm. Als er merkt, dass ich ihn nicht wegstoße, wird er sicherer. Es fühlt sich gut an, ihm so nah zu sein. Trotzdem plagt mich mein schlechtes Gewissen.
„Eigentlich bist du gar nicht mehr meine Klassenkameradin“, flüstert er.
„Nein, weil ich zu egoistisch war, dir nicht geholfen habe und du deswegen die Schule abbrechen musstest.“
„Ach, Quatsch. Das war meine Entscheidung.“
„Weil die Schule vorbei ist?“, rate ich in meinem Kummer.
Mio schüttelt den Kopf.
„Nein, ich wollte damit eher sagen, dass du mehr wie ein Freund für mich bist. Obwohl du das bestimmt anders siehst.“
„Es tut mir so leid“, heule ich und lehne mich an ihn. „Ich war total verknallt in dich, weil ich dachte, du bist anders als die oberflächlichen Typen, die nur auf Sex aus sind. Als dann Nele dazwischenfunkte, war ich am Boden zerstört.“
„Ich mag dich auch“, platzt Mio plötzlich heraus.
Verwirrt löse ich mich von ihm.
„Ich hab mich von der ersten Sekunde an sehr wohl in deiner Nähe gefühlt. Es war so, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich kann sonst nicht so offen mit fremden Menschen reden. Deswegen habe ich dich, nachdem du so wütend auf mich warst, trotzdem weiterhin beobachtet. Das hat mir selber Angst gemacht, aber ich habe es einfach nicht ausgehalten, nicht in deiner Nähe sein zu können“, beichtet er beschämt.
„Deswegen warst du da, als ich auf dem Schulweg umgekippt bin.“
„Ja.“
„Und den Hefter hast du mir in den Briefkasten getan, obwohl ich so eklig zu dir war und dich weggeschickt habe.“
„Ich weiß doch, wie wichtig dir deine Schule ist.“
„Oh mein Gott. Du bist total lieb.“
„Nein, ich hatte einfach nur ein schlechtes Gewissen und wollte dir helfen.“
„Küss mich.“
„W-was?“
„Sei still.“
Ich zieh ihn an mich. Keine Ahnung, was plötzlich in mich gefahren ist, aber so einem Menschen wie Mio bin ich vorher tatsächlich noch nie begegnet. Er verdient der erste Junge zu sein, den ich küsse. Natürlich ist danach mein Kopf knallrot und ich schäme mich, so fordernd gewesen zu sein. Da aber auch Mio wie eine Tomate aussieht, fühle ich mich nicht ganz so abnorm.
„Jetzt bin ich definitiv keine Klassenkameradin mehr“, sage ich verlegen.
„Nein …“
„Aber was bin ich dann?“
„Was Besonderes.“
Mio küsst mich diesmal von sich aus. Mir wird ganz warm ums Herz. Es fühlt sich an, als würde ich schweben. Ich glaube, so glücklich war ich noch nie …
**********
Als ich meine Augen öffne, bin ich zurück auf der Wiese. Ich richte mich auf. Mio liegt neben mir. Mit Bauchkribbeln berühre ich meine Lippen. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass ich alles nur geträumt habe.
Mio wird wach.
Ich bin nervös, als mich sein verschlafener Blick trifft.
„Es ist ja schon dunkel“, nuschelt er und gähnt.
Meine Aufregung wächst.
„Vielleicht sollten wir besser zurückgehen“, sagt er und setzt sich hin. Er streckt sich. Ich kann meinen Blick nicht von ihm lassen. Tief in mir fühle ich das dringende Bedürfnis, mich in seine Arme zu werfen und ihn küssen zu wollen.
‚Was denke ich da nur? Es war doch nur ein Traum!‘
Mio sieht mich wieder an. Ihm hängt ein Grashalm in den Haaren. Er bemerkt ihn selbst und zieht ihn raus. Achtlos lässt er ihn fallen. Danach wandert seine Hand zu mir. Ich spüre, wie mein Gesicht rot wird, als ich seine Finger hinter meinem Ohr fühle. Hoffnungsvoll halte ich ihn fest.
„Du hast da auch Gras“, antwortet er verunsichert.
Mein Herz würde mir aus der Brust springen, wenn es noch schlagen könnte. Verlegen lasse ich von seiner Hand ab. Mio nimmt sie zögernd zurück. Der Grashalm, der sich in meine Frisur verirrt hat, fällt zu Boden.
„Wir können auch noch hierbleiben“, sagt er.
„Ja“, antworte ich zögerlich.
„Okay.“
Schweigen. Ich starre stur geradeaus und versuche meine Gefühle unter Kontrolle zu kriegen. Aber so sehr ich auch bestrebt bin, den Traum zu vergessen, desto größer wird meine Sehnsucht nach Mios Nähe.
„Die Grillen zirpen ganz schön laut“, unterbricht er meine Gedanken.
Ich sehe ihn an. Mir sind die Grillen bis zu dem Moment nicht aufgefallen.
„Ja, du hast Recht“, sage ich.
„Du hast sie gar nicht bemerkt, stimmts?“
Ertappt weiten sich meine Augen.
„An was denkst du? Machst du dir Sorgen?“, fragt er.
‚Ja, ich mache mir Sorgen. Aber über etwas anderes, als du denkst‘, geht mir durch den Kopf und ich wende mich von Mio ab.
Er seufzt und legt seinen Arm um mich. Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich ihn so nah bei mir fühle.
Zögernd lehne ich mich an ihn und muss wieder an die Küsse aus meinem Traum denken. Mir wird ganz anders. Doch plötzlich unterbricht etwas unsere traute Zweisamkeit. Direkt neben mir huscht eine Maus durchs Gras. Ich sehe ihr Fell im Mondlicht schimmern. Sofort kriege ich Gänsehaut und fange an zu schreien. Mäuse und Ratten gehören zu den Geschöpfen, die ich verabscheue. In meinem Ekel weiche ich aus und lande auf Mio. Ich remple ihn um, sodass wir am Ende beide im Gras liegen. Entsetzt rutsche ich von ihm runter.
Ich knie auf dem Boden, als er sich aufsetzt.
„Was war denn jetzt los?“, fragt er aufgeregt.
„Eine Maus! Da war eine im Gras.“
Mio guckt mich aus großen Augen an, bevor er herzaft zu lachen beginnt.
„Und deswegen jagst du mir so einen Schreck ein?“, kichert er.
Ich stehe auf den Beinen und fühle überall auf mir die kleinen Füße dieser Maus.
„Ich muss hier weg. Auf der Stelle!“
„Okay, okay. Lass uns zurückgehen.“
„Sofort!“
… und so war es eine kleine Maus, die mich meinen Traum für eine ganze Weile vergessen ließ.
Kurzgeschichte zu KoZ
Mio vertraute seine intimsten Sorgen als Jugendlicher einem Tagebuch an, welches nach etlichen Jahren wieder aufgetaucht ist. Wird es ihm gelingen, die Geheimnisse vor seinen Freunden zu bewahren?
Trübsinnig ging ich an den Regalen vorbei. Mein Blick glitt zwischen den bunten Verpackungen entlang, jedoch weckte keine mein Interesse. Dennoch griff ich nach einer Tüte Gummibären. Mit ihr gings weiter Richtung Kasse. Ich wollte direkt bezahlen, wurde jedoch unterwegs auf einen Typen aufmerksam, der an dem CD Regal stand. Er war in etwa in meinem Alter und durchforstete interessiert das Angebot. Mir gefielen seine langen Haare, aber seine Begeisterung ließ mich ermüden.
Mein Tag heute war nicht gut. Ich bekam die Physikarbeit zurück. Mal wieder ne 5. Zum Kotzen.
Der Typ bei den CDs spürte meinen Blick. Er fühlte sich gestört. Verständlich. Schnell ging ich weiter und bezahlte der hektischen Kassiererin den Preis für meinen Seelentröster.
Gleich danach mussten die ersten Gummibären dran glauben. Der süße Geschmack auf der Zunge hob meine Laune ein bisschen. Aber nicht viel.
Ich schlürfte weiter, vorbei am Buchladen. Eine witzige Karte mit einer Schildkröte zog mich an. Ich überlegte, sie Mama zu kaufen. Sie mag die Tiere genau wie ich.
Wieder paar Euro ärmer gings weiter Richtung Ausgang. Da rempelte mich ein älterer Mann an. Beinahe ließ ich die Gummibären fallen.
„Pass doch auf“, schimpfte er, obwohl ich keine Schuld hatte. Hastig lief er weiter. Ich dachte mir verärgert meinen Teil, stopfte gleich noch paar Gramm Zucker nach und ging zum Schreibwarenladen.
„Mio, bring mir nach der Schule bitte neue Briefumschläge mit“, hatte mir Mama gesagt. Nur deswegen bin ich eigentlich ins Kaufhaus gefahren.
Träge wanderte ich durch das enge Geschäft. In den vollgestopften Ablagen standen unzählige bunte Stifte. ‚Keine Ahnung, wer so viele Stifte braucht …‘ Briefumschläge fand ich keine. Dafür etwas anderes: Zwei tuschelnde Mädchen aus meiner Parallelklasse. Sie kicherten und hielten beide ein mintgrünes Buch in der Hand. Auch ihnen entging mein Blick nicht. Sie lächelten mich an. Beschämt wich ich aus und machte kehrt.
‚Stopp, Mamas Briefumschläge!‘
Bedeckt wartete ich bei den Ordnern und Schnellheftern, bis die Mädels aus meiner Schule sich verzogen. Sie kauften beide diese mintgrünen Bücher. Nachdem sie weg waren, traute ich mich aus meinem Versteck. Warum auch immer zog es mich zu der Stelle, an der die beiden standen. Ich entdeckte die Auslage der besagten Bücher.
‚Ein Tagebuch‘, dachte ich und fühlte ein tiefes Verlangen. Doch schnell schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab. Mein komisches Verhalten weckte die Aufmerksamkeit der Verkäuferin. Sie quetschte sich mit ihrem dicken Bauch hinter der Kasse vorbei und kam zu mir. Ich bemerkte sie nicht gleich und erschrak, als sie mich ansprach.
„Kann ich dir helfen?“
„I-Ich s-such Briefumschläge”, antwortete ich und verhaspelte mich beim Sprechen. Das passiert mir immer, wenn ich nervös bin.
„Dort“, meinte sie. „Du bist ganz richtig.“
Die Umschläge lagen neben den Tagebüchern. Sie waren mir nicht aufgefallen.
„D-Danke“, sagte ich.
Sie nickte und watschelte zurück zur Kasse.
‚Die ist schwanger‘, ging mir durch den Kopf, bevor ich den ersten Packen Umschläge nahm. Dabei stellte ich mich ungeschickt an. Ich riss eines der Tagebücher mitsamt mehreren Packungen Briefumschlägen aus dem Regal. Hektisch sammelte ich alles auf. ‚Wie peinlich.‘ Doch ich hielt inne, als ich das mintgrüne Buch in den Händen hatte. Ich starrte es an. Es fühlte sich verhältnismäßig schwer an, obwohl es nicht wirklich dick war. Der Umschlag war weich. Ein Schloss hing vorn dran, inklusive zwei Schlüsseln.
„Soll ich dir helfen?“, rief die Kassiererin genervt.
„N-Nein, ich hab alles.“
Ich ging zu ihr.
„13,48 bitte.“
Angespannt gab ich ihr das Geld. Eilig verließ ich das Geschäft. Meine Einkäufe stopfte ich vorher in den Rucksack.
*
Erster Eintrag: 25. April 2018
Was hab ich mir nur dabei gedacht …
Zuerst sollte man sich vorstellen, denke ich. Obwohl es albern ist, immerhin weiß ich, wer ich bin und niemand anderes wird das hier je zu Gesicht kriegen. Trotzdem … Die zehn Euro sollen nicht umsonst gewesen sein.
Mein Name ist Emilio Marino, geb. 31.08.2004 in Dresden, aber ich wohne mit meinen Eltern in Kittlitz. Ich liebe Fußball. Seit ich sieben bin, spiele ich im Verein. Ein anderes Hobby habe ich nicht, obwohl ich auch gern singe. Aber das ist zu unmännlich. Papa will das nicht. Er würde durchdrehen, wenn er wüsste, dass ich dich gekauft hab. Aber vielleicht wollte ich dich genau deswegen …
Na, egal. Ich stell mich weiter vor.
Außer in Sport bin ich nicht gut in der Schule. Ich hasse Mathe, Physik, Englisch, Geo, Deutsch – eigentlich alle Fächer. Ich leide an Prüfungsangst. Meine Nervosität lässt mich jede Klausur vermasseln, egal, wie viel ich gelernt habe. Meine Eltern sind von meinen schlechten Leistungen natürlich nicht begeistert. Mit Papa gibt es deswegen immer Ärger. Er ist Polizist und muss aufgrund seines Jobs streng und taff sein. Er ist ein starker Mann, der unangefochten der Boss ist. Daheim wie auf Arbeit. Mama und ich würden uns nie trauen, etwas gegen seine Meinung zu sagen. Mich macht das oft ziemlich traurig (und wütend). Er nörgelt ständig an mir rum. Entweder sind meine Haare zu lang, oder ich bin zu verweichlicht. Es ist ewig her, dass er mich ohne ein nachfolgendes „Aber“ einfach nur gelobt hat.
*
„Hä? Mio, was hast du denn da?“
Raxia legt ihre Hand auf meine Schulter und beugt sich über mich. Ich erschrecke beinahe zu Tode. Sie weicht zurück, weil sie mit meiner heftigen Reaktion nicht gerechnet hat.
„Himmel“, schnauft sie. „Geht’s noch? Du hast mich erschreckt.“
„Gleichfalls“, japse ich und verstecke das alte Tagebuch unter meinem Kopfkissen. Raxia beobachtet meine Bewegung. Sie hebt fragend eine Augenbraue. Um auf Nummer Sicher zu gehen, dass sie nicht rankommt, setze ich mich auf das Kissen.
„Was ist das?“
„Nichts.“ Beschämt weicht mein Blick ihr aus.
„Du hast da was gelesen.“
„’ne Erinnerung.“
„Mioooh“, zieht sie meinen Namen unnötig in die Länge und stemmt die Hände in die Hüften. „Du hast mir versprochen, keine Geheimnisse vor mir zu haben.“
„Das hab ich nie versprochen.“
„Doch.“
„Nein.“
„Das ist unfair! Ich will wissen, was du da gelesen hast.“
„Nichts.“
„Dann seh ich eben selber nach.“
Kurz darauf lehnt ihr ganzes Gewicht gegen mich. Sie kniet halb auf meinem Bett, aber ich denke nicht dran, mich von dem Kissen zu entfernen. Niemand darf dieses uralte Tagebuch mit meinen dunkelsten Geheimnissen zu Gesicht kriegen. Es ist ein Wunder, dass es nach all den Jahren noch unversehrt in seinem Versteck auf mich gewartet hat.
„Hör auf dich zu wehren“, knurrt Raxia. Sie liegt auf mir und ich halte ihre Arme fest. Unter mir liegt das Tagebuch sicher vergraben. Es wäre ein leichtes Raxia in den Bauch zu treten und von meinem Bett zu werfen. Aber ich will ihr nicht wehtun.
„Hast du da was Fieses über mich reingeschrieben?“
„Warum sollte ich das tun?“, antworte ich unter Druck. Ihr Knie ist an einer sehr gefährlichen Stelle. „Lass mich in Ruhe.“
„Gib auf!“ Sie lässt sich fallen. Ich fühle ihren Körper auf mir. Das macht mich nervös. Erschrocken lasse ich von ihr ab, woraufhin ihre Hände sich blitzschnell unter mein Kopfkissen graben. Ich erschrecke. Es fehlt nicht viel, dann zieht sie das Buch unter mir hervor. In meiner Panik umschlinge ich ihren Oberkörper mit den Beinen und fuchtle blind mit den Händen hinter meinem Kopf, um sie zu stören. Raxia hält ihre Beute fest. Zum Lesen kommt sie nicht.
„Jetzt lass mich einen Blick hineinwerfen“, meckert sie.
„Nein! Das geht dich nichts an!“
„Dann sind da Lästereien drin! Ist das Milans und dein neues Hobby, seit du wieder Lesen kannst?“
„Nicht alle Welt dreht sich um dich, Raxia.“ Mein Hieb sitzt. Ich schaffe es, ihr das Tagebuch aus der Hand zu schlagen. Es landet im hohen Bogen auf dem Boden. In Zeitlupe sehe ich meine niedergeschriebene Jugend davonflattern.
Raxias Augen haben das Ziel erfasst. Sie will ihm nach.
„Nein“, rufe ich energisch, umklammere ihren Bauch und wir fallen durch den Schwung vom Bett. Ich begrabe sie unter mir. Tapfer streckt sich ihr Arm Richtung Tagebuch. Der mintgrüne Rücken, der nach den Jahren mitgenommen aussieht, liegt oben. Ihre Fingerspitzen berühren es beinahe.
‚Wenn ich sie loslasse, um das Buch zu greifen, ist sie schneller. Mist, was mache ich nur?‘
„Ich habe es gleich und werde herausfinden, was für ein Geheimnis du vor mir hast“, sagt sie entschlossen.
Ich sehe alle Felle davonschwimmen. In dem Moment geht die Tür auf.
„Mio, ich hab …“ Milan stockt. Sein Blick wandert zu Boden. Raxia und ich sind erstarrt. Wir liegen in keiner vorteilhaften, sondern vielmehr zweideutigen Position aufeinander. Milan lacht.
„Wie wäre es mit abschließen? Oder wolltet ihr erwischt werden?“
Raxia und ich werden schlagartig rot. Ich gehe von ihr runter. Just fällt Milan das Tagebuch auf. Noch kichernd bückt er sich und hebt es auf.
„Lass das“, rufe ich entsetzt, als ich es in seiner Gewalt sehe. „Du darfst das nicht lesen.“
„25. April 2018? Das ist ja uralt.“
„Gib es her!“
Breit grinsend hebt er es über seinen Kopf. Ich komm nicht ran.
„Milan!“
„Du hast Tagebuch geschrieben?“
„Das geht dich gar nichts an!“
„Ein Tagebuch?“, fragt Raxia verwirrt, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hat. „Was ist das?“
„Ein Buch, in dem kleine Mädchen ihren Liebeskummer für die Ewigkeit festhalten“, scherzt Milan. „Passt zu dir Mio.“
„Du bist gemein!“
„Findest du?“ Er grinst und gibt mir ohne Umschweife das Buch zurück. Verwirrt sehe ich ihn an.
„Versteck es vor der Spannerin.“
„Spannerin?!“, keift Raxia empört und ballt die Fäuste. Milan lacht.
„Ich geh ’ne Runde mit Wuff und hau mich dann auf die Couch.“ Damit ist er weg. Fassungslos sehe ich ihm nach und halte das Buch umklammert, bis Raxia die Stille bricht.
„Du hättest mir sagen können, was das ist“, meint sie beleidigt.
„Ich muss dir nicht alles sagen. Außerdem ist das peinlich“, knurre ich.
„Wieso?“
„Weil Jungs sowas eigentlich nicht machen. Ich habe es die ganzen Jahre vor Papa geheim gehalten. Er hat es bis zu seinem Tod nicht gewusst, dass ich so etwas unmännliches getan habe.“
„Unmännlich? Was ist denn so schlimm daran, seine Gedanken aufzuschreiben? Oder denken Männer nicht?“ Sie grinst gehässig, aber ich gehe nicht darauf ein. Schweigend haftet mein Blick auf dem alten Buch.
Als ich es damals kaufte, lebten meine Eltern noch. Ich hatte eine Familie und plagte mich mit ganz normalen Problemen. Niemals hätte ich geahnt, dass ich bereits zwei Jahre nach dem ersten Eintrag sterben würde, um mein Schicksal zu erfüllen. Es ist echt verrückt.
Plötzlich fühle ich wieder Raxias Hand auf meiner Schulter. Diesmal erschrecke ich mich nicht. Sie lehnt ihren Kopf an mich und seufzt. Ihre Arme gleiten über mich und berühren sich vor meiner Brust. Ihre Finger machen keinerlei Anstalten, mir das Tagebuch wegnehmen zu wollen.
„Für mich bist du der stärkste Mann von allen“, sagt sie.
„Erzähl mal noch so einen.“
Sie kichert und drückt mir einen zaghaften Kuss auf die Wange. Danach lässt sie von mir ab und lächelt in mein rotes Gesicht.
„Ich werde es nie lesen. Versprochen. Aber ich hör zu, wenn du mir etwas erzählen willst.“
„… danke.“
„Wozu sind Freunde denn da?“ Sie streckt mir ihre Hand entgegen. Ich lächle erleichtert, werfe mein altes Tagebuch auf das zerwühlte Bett, und greife zu.
„Jetzt kochst du uns was Leckeres zum Abendbrot, Mio.“
„Grießbrei.“
„Oh nein, nicht schon wieder!“
Boyslove – empfohlen ab 16
Leon Noel arbeitet neben dem Studium als Callboy, um die leere Studentenkasse aufzufüllen. Er ist ein offener Mensch, der sein eigenes Leben lebt, jedoch zunehmend spürt, dass ihm irgendetwas fehlt. Kann ihm sein Kommilitone Enrico die Antwort liefern?
Prolog
Ich stehe vor der verschlossenen Tür und atme tief durch. Meine Hände sind schwitzig. Ich bin ziemlich nervös. Ist das erste Mal, dass ich soweit gehe. Bisher hab ichs nur vor der Webcam gemacht. Aber was solls. Augen zu und durch.
Ding-Dong – die Klingel. Ich schlucke stark, als die Haustür geöffnet wird.
„Hi, ich bin Leon“, stelle ich mich mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen vor.
„Es freut mich“, sagt Uwe und bittet mich in sein Haus. Mir kommt ein ekliger Geruch nach benutzter Katzentoilette entgegen. Außerdem ist es viel zu warm und die Einrichtung ist altmodisch.
‚Ich hab auch immer was zu meckern …‘
„Da hinten ist mein Zimmer“, erklärt Uwe und quetscht sich an mir vorbei durch den engen Flur. Ich folge und halte nach der Katze Ausschau, die den penetranten Geruch verursacht hat. Nix zu sehen.
‚Auf was hab ich mich hier nur eingelassen?‘
Er führt mich in sein Zimmer. Im Chat erwähnte er bereits, dass er Mitte Dreißig ist und noch bei seiner Mutter wohnt. Sie sei aber heute nicht zu Hause, weshalb einem gemeinsamen Treffen nichts im Wege stand. Da Uwe überhaupt nicht mein Typ ist und ich annahm, so besser an ihm „üben“ zu können, willigte ich ein.
„Darf-darf ich dich gleich bezahlen?“, fragt er nervös und fährt sich durch die dunklen, schütteren Haare.
„Ja, bitte“, sage ich freundlich.
Er drückt mir den Hunderter in die Hand. So schnell hab ich noch nie so viel Geld verdient. Das tröstet über den seltsamen Kerl und die eklige Umgebung hinweg. Außerdem motiviert es mich, mein Bestes zu geben. Getreu dem Motto: Der Kunde ist König.
Meine Nervosität verschwindet. Ich gewöhne mich an den Gedanken, es mir heute mal nicht vor Publikum selbst zu machen, sondern mich von Uwe verwöhnen zu lassen. Verführerisch lächle ich ihn an. Das hab ich echt drauf. So viel Eigenlob muss sein. Seit ich mit fünfzehn akzeptiert hab, auf Männer zu stehen, habe ich meine Flirttechnik trainiert. Ich achte auf meinen Körper und pflege mein Äußeres, um auf dem „Markt“ beliebt zu sein. Mit meinen mittlerweile achtzehn Jahren betreibe ich einen eigenen Gay-Webcam-Channel, für den meine Kunden mir monatlich Geld überweisen. Keine schlechte Sache, aber irgendwie wird es auf Dauer langweilig, sich immer nur selbst anzufassen. Ich wollte was Neues ausprobieren und mache jetzt einen auf Callboy.
Mein Versuchsobjekt hat bereits einen Ständer, obwohl ich einfach nur mit ihm in einem Raum bin. Das geht runter wie Öl. Sofort bin ich bestrebt, ihm ordentlich was für sein Geld zu bieten. Über seine Vorlieben haben wir bereits im Chat geschrieben. Ich weiß, dass er gern rumkommandiert wird. Kann er haben. Ich kann nicht nur die süße und unschuldige Masche.
„Dann fangen wir an, bevor die Stunde um ist“, lege ich fest und öffne provokant meine Jeans. Sie gleitet an meinen Beinen hinab. Just hängt Uwes Blick an der Beule in meiner Unterhose.
„Blas mir einen“, verlange ich keck. Uwe fängt an zu schwitzen und ist im Nu vor mir auf seinen Knien.
‚Der schönste Job der Welt …‘
Kapitel 1
Im „echten Leben“ heiße ich Leon Noel Weber, bin achtzehn Jahre alt und studiere Medienmanagement. Über mein Studium bin ich auch auf die Idee gekommen, meinen eigenen Gay-Webcam-Service anzubieten, um meinen leeren Geldbeutel aufzufüllen. Andere Nebenjobs finde ich langweilig. Natürlich versuche ich zu verhindern, dass meine Kommilitonen von meinem Nebengewerbe erfahren. Nicht alle sind so aufgeschlossen wie ich, was Sex angeht. Ich hab keine Lust, wie zu Schulzeiten gemobbt zu werden, nur weil ich auf Jungs stehe.
Einen Freund habe ich nicht. Ich bin gern Single und lebe mein eigenes Leben. Ich bin sofort mit achtzehn von zu Hause in die Großstadt gezogen. Meine Eltern haben das nicht bedauert. Im Dorf war ich „der schwule Junge der Webers“. Ich war das Gespött der Nachbarschaft und vor allem mein Vater hat ein sehr großes Problem mit meiner Homosexualität. Ich glaube, würde er wissen, mit was ich mein Geld verdiene, würde er sich erschießen.
Ich habe noch einen jüngeren Bruder, der nicht schwul ist. Fynn Luca. Er ist sechzehn und der einzige, mit dem ich noch aus meiner Familie intensiven Kontakt pflege. Ihm ist es egal, mit wem ich ficke. Er weiß auch von der Website. Wir treffen uns an den Wochenenden, um Party zu machen, bin ich nicht im Schwulenviertel unterwegs.
Uwe war mein erster Kunde, den ich im „echten“ Leben getroffen habe. Der Sex mit ihm war nicht sehr toll. Er ging recht schnell und ich habe mich danach seltsam gefühlt. Auch die drei anderen Männer, mit denen ich mich die Woche darauf an unterschiedlichen Tagen traf, verschafften mir ein komisches Gefühl. Ich weiß jedoch nicht, wie ich es einordnen soll. Mir gefällt es sehr, das Objekt der Begierde zu sein. Ich liebe Sex und will es auch mit vielen verschiedenen Männern treiben. Doch irgendwie fehlt dabei das gewisse Etwas. Ich hab mir den Kick mit wildfremden gegen Bezahlung zu vögeln größer vorgestellt. Vielleicht bin ich aber auch einfach bereits zu sehr abgestumpft.
Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken. Ich bin mit Fynn verabredet. Er will mir seine neue Freundin vorstellen. Sie ist recht hübsch, aber macht einen langweiligen Eindruck. Im Club kommt sie kaum aus sich heraus und geht nicht einmal tanzen. In einem günstigen Moment schnappe ich mir meinen Bruder und stell ihn zur Rede.
„Verrätst du mir, warum du dich für Hanna entschieden hast?“, frage ich scheinheilig.
„Sie ist süß.“ Fynn hebt die Schultern. „Soll ja nix für immer sein.“
„Nach Abenteuer wirkt Ms. Mauerblümchen aber nicht.“
„Kann ja nicht jeder so offenherzig sein wie du, Noel.“ – Mich nennen alle nur bei meinem zweiten Vornamen, weshalb ich „Leon“ im Dienst benutze.
„Verlangt auch niemand. Ich dachte nur, du suchst dir eine, die mehr Spaß verspricht.“
„Sie ist meine erste richtige Freundin. Ich mag Hanna. Wir haben ähnliche Hobbys und sie kann echt witzig sein.“
„Na, wenn du denkst.“
„Wie sieht es bei dir aus? Hast du jemanden?“
„Ich hab viele“, grinse ich und stehle mich aus der Unterhaltung. Ich habe vorhin einen hübschen Kerl auf der Tanzfläche ausfindig gemacht, der genau mein Typ ist. Etwas älter wie ich, groß, schlank, muskulös und ein attraktives Gesicht. Ich selbst sehe ähnlich aus, bis auf mein weiches Gesicht. Ich bin eher der Typ Twink, auf den viele stehen: Süß und mit Sahne gefüllt.
Die darf der geile Kerl kosten, wenn ich Schwein hab und er keine Hete ist. Das werde ich gleich herausfinden.
Zielstrebig nähere ich mich meinem Objekt der Begierde. Ein paar Mädels scharen sich um ihn, doch er beachtet keine einzige. Vielleicht hab ich Glück. Mit einladenden Hüftbewegungen pirsche ich mich ran, bis Augenkontakt entsteht. Braune Augen – Volltreffer. Ich selbst hab blaue, aber ich stehe auf dunkle Teddybäraugen, die mich verlangend anschmachten, während ihr Besitzer es mir verschwitzt besorgt.
‚Mann, ich bin heute aber sowas von geil.‘
Ich tanz mit dem Kerl und präge mir seine Moves gut ein. Sie sehen vielversprechend aus. Er weiß mit seinem Traumkörper umzugehen. Daher versuch ich es und frage ihn, ob er Bock hat, nach hinten zu verschwinden. Er grinst mich an.
„Und was machen wir da?“ Seine tiefe Stimme gefällt mir.
„So dies und das.“ Ihn trifft mein anzüglicher Blick, während ich mir unauffällig über die Lippen lecke. Das gefällt den meisten – mein süßes Gesicht verrucht und verdorben.
„Hm, nur wir beide?“ Er schaut über mich hinweg. Ich folge seinem Blick und erkenne Fynn neben Hanna an der Bar. Sie unterhalten sich. Der sexy Typ hat wohl auch ein Auge auf meinen Bruder geworfen – oder Hanna?
„Willst du es nicht erstmal mit mir versuchen?“, biete ich an und berühre gezielt seine Brust. Ich umfahre seine Nippel auf dem Stoff und sehe unschuldig zu ihm auf. „Ich kann ziemlich fordernd sein.“
„Ich hab aber keinen Bock, für dich zu bezahlen.“
„Oh, mein Ruf ist mir wohl vorausgeeilt.“ – ‚Scheiße. Jetzt bloß nicht verunsichern lassen.‘
Ich lächle ihn an. „Keine Sorge, ich bin heute privat unterwegs.“
„Du bist aber keine Trophäe. Dein Loch kriegt jeder, der dafür blecht. Ich find den Jungen dahinten besser. Der ist noch nicht ausgeleiert.“
‚Was für ein Arschloch!‘ Wütend lasse ich von ihm ab. „Selber schuld, wenn du dir die einmalige Gelegenheit entgehen lässt.“
„Pff, von wegen einmalig.“ Unbeeindruckt dreht er sich weg und tanzt mit jemand anderem. Ich verzieh mich.
Das ist die Schattenseite an meinem Nebenjob. „Leon“ besteht aus einem hübschen Gesicht und einem geilen Körper. Er ist eine Ware, kein richtiger Mensch. Ich bin mir darüber seit Anfang an im Klaren und bilde mir nicht ein, von meinen Fans um meinetwillen geliebt zu werden. Trotzdem ist es jedes Mal beschissen, so direkt niedergemacht zu werden. Auch wenn ich mich verkaufe, bin ich trotzdem kein Müll. Ich lass mich nur lieber flachlegen, als Regale im Supermarkt aufzufüllen.
Aber das tröstet mich jetzt auch nicht. Ich will nach Hause und verabschiede mich von meinem Bruder und seiner langweiligen Freundin.
Kapitel 2
Mit Vierzehn verknallte ich mich in meinen besten Freund. Wir kannten uns seit der Grundschule und waren unzertrennlich. Als ich merkte, dass sich meine Gefühle für ihn veränderten und ich mir immer wieder sein Gesicht vor Augen rief, während ich masturbierte, bekam ich Angst.
Ich glaube nicht, dass irgendein Junge gern akzeptiert, dass er anders ist. Ich für meinen Teil verabscheute meine Neigung zu Beginn. Ich ignorierte sie und versuchte mein gutes Aussehen einzusetzen, um mir irgendein Mädel zu angeln, das meine Ängste zerstreute. Ich fand auch eins: Laura. Sie ging in meine Parallelklasse und war wohl schon seit ner Weile in mich verknallt. Ich machte mit ihr rum, küsste sie, streichelte ihren Busen – Langeweile pur. Ich konnte nichts mit ihrem weiblichen Körper anfangen. Er reizte mich überhaupt nicht. Ihr siebzehnjähriger Bruder David dagegen weckte schon eher mein Interesse. Ich ignorierte das am Anfang und übersah die Blicke, die er mir zuwarf, war ich bei Laura zuhause. Doch dann kam Lauras Fünfzehnter Geburtstag. Wir feierten zusammen und betranken uns das erste Mal. Sie schlief schnell ein. Ich wollte gehen, als mich David aufhielt. Unsere Blicke trafen sich. Er packte und küsste mich. Noch nie erlebte ich solche Gefühle. Ich folgte ihm in sein Bett. Er zog mich aus und lutschte an mir. Ich kam sofort. Ich kann mich noch gut an sein Gesicht erinnern, in dem mein Zeug klebte. Das war so geil. Ich hätte gleich ein zweites Mal abspritzen können.
Danach vögelten wir. David nahm mich hart ran. Es tat weh. Für einen Moment verging mir die Lust. Ich hatte Schiss, aber als ich sein erregtes Gesicht sah, verflogen alle Sorgen. Ich spürte Stolz, weil mein Körper ihm diese Gefühle bereitete.
Seit dem Tag traf ich mich nur noch mit Laura, um mit David heimlich rumzumachen. Wir schliefen aber kein zweites Mal zusammen. Ich wollte mich nicht in ihn verlieben, denn mein Herz gehörte meinem besten Freund. Damit setzte ich alles auf eine Karte. Meine Homosexualität leugnen funktionierte nicht mehr. Nach der Nacht mit David war mir klar, dass ich ne Schwuchtel bin. Doch ich wollte keine sein, die leichtfertig für jeden die Beine breit machte.
Ich gestand Moritz meine Gefühle, als ich ihn bei der nächstbesten Gelegenheit küsste. Ich war sehr nervös und hatte Schiss, schließlich bedeutete er mir alles. Doch mein mutiger Vorstoß ging nach hinten los. Moritz ekelte sich vor mir. Er verpasste mir ein Veilchen und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.
„Mit ner Schwulette will ich nicht befreundet sein! Komm wieder, wenn du normal bist, Noel!“, sagte er.
Für mich brach ’ne Welt zusammen. Ich litt wochenlang unter Liebeskummer und grenzte mich von allen ab. Meine Eltern machten sich Sorgen und in einem schwachen Moment vertraute ich mich ihnen an. Ich gab zu, mich in Moritz verliebt und von ihm einen Korb kassiert zu haben. Das war Fehler Nummer Zwei. Mein Vater rastete aus und Mama heulte, weil sie von mir keine Enkel bekommen würde. Zur Strafe schickten sie mich mit Hausarrest aufs Zimmer und meldeten mich beim Psychologen an.
„Unser Sohn kann nicht schwul sein. Das liegt überhaupt nicht in der Familie. Wir sind doch alle normal.“
Wie gesagt, ich bin auf dem Dorf groß geworden. Hier herrschen andere Regeln, als wie in der anonymen Großstadt. Meine Familie ist gutbürgerlich und ich bin das erste schwarze Schaf seit meinem Ur-Ur-Großvater, der wegen einem Mord an einer Prostituierten inhaftiert wurde. Schwulsein war für meine Eltern also genauso schlimm, wie ein Mörder zu sein.
Mit fünfzehn schwur ich mir, mein Elternhaus mit achtzehn zu verlassen, um frei leben zu können. Bis dahin wollte ich mich meiner Familie zuliebe zusammenreißen und mimte den Ex-Homo, der aus pubertären Gründen sexuell ins Schwanken geraten war. Meine Eltern gaben Ruhe, ich ersparte mir die peinlichen Psychologen-Gespräche und alles war beim Alten.
Zumindest fast. Natürlich bekamen meine Klassenkameraden mit, dass Moritz und ich uns gestritten hatten. Sie waren neugierig. Auch typisch Dorf: Privatleben kannste vergessen. Moritz war aber fair. Er verpetzte mich nicht, wofür ich ihm wirklich dankbar war. Dafür würgte mir David eine rein. Es kotzte ihn an, dass ich nicht mehr mit ihm ins Bett ging. In seiner Wut erzählte er in der Schule herum, ich hätte ihn angemacht. Das Gerücht verbreitete sich rasend schnell und ehe ich mich versah, war ich offiziell der „schwule Weber-Junge“. Es hatte keinen Sinn, irgendetwas abzustreiten. Meine Eltern versuchten es zwar, aber wie heißt es so schön? Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.
Ich war Gespött Nummer Eins und damit auch meine gesamte Familie. Auch mein Bruder Fynn wurde in seiner Klasse dumm angemacht. Ich verprügelte die Typen, die ihn beleidigten. Er hatte danach Ruhe und ich eine schriftliche Verwarnung vom Direktor. Offenbar war es in Ordnung, andere zu mobben, denn weder die Typen aus Fynns Klasse, noch die aus meiner, erhielten eine Strafe für die tagtäglichen Beleidigungen, die wir uns anhören durften.
Ich hasste mein Dorf immer mehr. Ich fieberte meinem achtzehnten Geburtstag und meinem Schulabschluss entgegen. Als ich mein Abi mit 1,6er Durchschnitt endlich in der Tasche hatte, suchte ich mir ’ne Wohnung in der Nähe meiner Uni und packte die Koffer.
„Wie willst du das bezahlen? Bleib doch zu Hause. Du bist noch viel zu jung zum Ausziehen.“
„Von uns kriegst du kein Geld, um es in der Stadt zu verschleudern! Lern lieber einen ordentlichen Beruf!“
Mama war besorgt und Papa enttäuscht. Den beiden war klar, dass ich mich nicht auf ewig verstellen konnte. Sie mussten einsehen, dass ich „nicht normal“ war. Aber sie wollten es nicht. In ihren Augen „spiele ich schwul, weil es gerade modern ist“.
„Du bist so egoistisch, Noel! Denk doch mal an deinen Bruder! Fynni wird so oft wegen dir in der Schule geärgert. Auch die Nachbarn gucken komisch. Alle im Dorf reden über dich und machen sich über unsere Familie lustig. Selbst Papas Geschäft läuft sehr schlecht, seit du mit dem Jungen von den Bertels etwas hattest.“
Die Leier war immer dieselbe. Ich bin böse und alle anderen die Opfer. Das hielt ich keinen Tag länger aus. Ich suchte mir ’ne billige Wohnung, nahm mir vor, meinen Bachelor mit 1er Durchschnitt zu bestehen, und kehrte meinem spießbürgerlichen Elternhaus den Rücken.
Kapitel 3
Seit ein paar Wochen ist ein neuer Student in mein Semester gewechselt. Er ist genau mein Typ, obwohl er sehr zurückhaltend ist. Eigentlich stehe ich nicht auf Mauerblümchen. Aber der Kerl hat es mir angetan. Vielleicht ist es sein eiskalter Blick, mit dem er mich zu durchbohren scheint, dränge ich mich in sein Sichtfeld. Er weckt den Masochisten in mir. Jedoch sind wir Kommilitonen. Ich möchte meinen „normalen Ruf“ an der Uni nicht aufs Spiel setzen. Deswegen habe ich ihn bisher noch nicht angesprochen. Um ehrlich zu sein, kenne ich nicht mal seinen Namen. Es wird mir also leichtfallen, ihn schnell aus meinem Kopf zu bekommen. Da draußen gibt’s noch andere heiße Typen.
Dennoch denke ich an ihn, während ich mir bei der heutigen Sendung einen runterhole. Ich stelle mir sein Gesicht vor, fühle seine Hände auf meinem Körper – er weiß genau, was er will. Ich werde zu Wachs …
Heute bekomme ich besonders viel Trinkgeld. Scheinbar habe ich ’ne gute Show geliefert. Umso besser. Die Miete wird fällig. Ich kann jeden Cent gebrauchen.
Die Wochen vergehen. Ich etabliere mich immer fester in der Callboy-Szene und habe einen umfangreichen Kundenstamm aufgebaut, der mir mein monatliches Einkommen sichert. Meinen Gay-Channel betreibe ich nur noch nebenbei. Eigentlich ein Grund zur Freude, bin ich damit all meine Geldsorgen los. Aber ich habe wie immer etwas zu meckern: Der bedeutungslose Sex langweilt mich zunehmend. Um das zu ändern, verabrede ich mich mit einem Kollegen. Wir treffen uns im Café beim Kaufhaus in der Stadt.
Sascha ist ein schöner Mann mit langen braunen Haaren und einem leichten Bart. Er wirkt sehr beeindruckend, steht man ihm gegenüber. Ich bin fasziniert über seine Ausstrahlung und empfinde Minderwertigkeitskomplexe. Ich lächle sie weg und schlucke die Nervosität herunter.
„Dann erzähl mal von deinem Werdegang“, fordert Sascha. „Du bist ja noch recht jung.“
„Viel gibt es nicht zu sagen. Ich bin Student und brauch die Kohle. Bisher hatte ich auch immer Spaß bei der Arbeit, aber irgendwie öden mich alle Typen nur noch an.“
„Das kenne ich“, grinst er. „Das nennt sich Routine. Ist normal, dass dich der Job abstumpft.“
„Kann ich was dagegen tun?“
„Viagra.“
„Nehm ich manchmal. Aber das ist keine Dauerlösung.“
„Mach dir heiße Gedanken. Such dir Tops und lass dich von ihnen verwöhnen. Ich mag solche Jobs am meisten.“
„Das mach ich alles bereits. Poppers, Sextoys, Fetisch – ich bin echt nicht prüde, aber die Langeweile lässt sich nicht verleugnen. Ich dachte, es gibt irgendeinen Geheimtrick, um motiviert zu bleiben.“
„Da muss ich dich enttäuschen. Wenn du dich nicht selber in deinen Gedanken aufgeilst, wirst du wohl nicht mehr lange in der Branche tätig sein.“
„Das sind aber keine guten Aussichten“, lache ich, um über meinen Ärger hinwegzutäuschen.
„Mach dir nicht so einen Druck. Solange sich die Kunden nicht beschweren, sind sie mit dir zufrieden. Vielleicht schaffst du es, dass sich paar von denen in dich verlieben.“
„Die wollen doch nur meinen Körper.“
„Den können sie auch lieben“, zwinkert Sascha.
Wir unterhalten uns noch ein bisschen, bis ich mich verabschiede – nicht wirklich schlauer.
Mein Problem bleibt bestehen. Ich verliere mich immer mehr in der Langeweile und erlebe es häufiger, kein „Stehvermögen“ mehr zu haben. Deshalb beschließe ich, eine Pause einzulegen. Ich habe Semesterferien und fahre seit langer Zeit nach Hause.
Die Begrüßung seitens meiner Eltern fällt kühl aus. Sie stellen weder Fragen zu meinem Studium, noch zu meinem Privatleben. Der Trotz steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Das verletzt, schließlich gebe ich mir wirklich Mühe beim Studium.
„Du könntest öfter etwas von dir hören lassen“, ist das einzige, was sie mir sagen.
‚Warum?‘, frage ich mich. ‚Die wollen es doch gar nicht hören.‘
Niedergeschlagen klopfe ich an Fynnis Tür. Hanna ist bei ihm zu Besuch. Dementsprechend lang dauert es, bis er öffnet.
„Noel, du bist ja schon da.“ Glücklich umarmt er mich. „Hab dich gar nicht kommen hören.“
„Ninja“, grinse ich und bringe meinen Bruder zum Lachen.
„Unternehmen wir heute was? Zur Feier deiner Rückkehr?“
„Ich bleib nicht lang“, seufze ich.
„Hä? Ich dachte, du hast Semesterferien?“
„Hab ich auch, aber die verbringe ich nicht in dieser ungastfreundlichen Umgebung.“
„Haben Mama und Papa dich wieder dumm angemacht?“
„Du kennst sie. Vielleicht haben sie Angst, ich könnte meine Homo-Bakterien verteilen und ihre einzige Hoffnung auf ein Enkel infizieren.“
„Unsinn“, knurrt Fynn. „Du interpretierst da zu viel rein.“
„Sei es drum. Gehen wir heut Abend aus? Danach fahr ich zurück in meine Wohnung. Meinen Anstandsbesuch habe ich für dieses Jahr hinter mir.“
So geschieht es: Gemeinsam fahren wir in ’ne Disco in der Stadt und machen einen drauf. Hanna kommt diesmal sogar etwas aus sich heraus. Ich unterhalte mich mit ihr und darf feststellen, dass sie tatsächlich sympathisch ist.
„Warum warst du letztens so schüchtern?“, frage ich.
„Ich-ich brauch erst bisschen Zeit“, erwidert sie ertappt und weicht beschämt meinem Blick aus. Ich grinse breit und proste ihr zu.
„Ich bin der letzte, der über wen urteilt“, grinse ich. „Willkommen in der Familie.“
„Danke.“
Fynni lächelt glücklich und wir verbringen einen angenehmen Abend zusammen.
Als wir nach Mitternacht den Heimweg anstreben, begegne ich dem hübschen Typen aus der Uni. Er rempelt mich am Ausgang ausversehen an und entschuldigt sich sofort.
„Dich kenn ich doch“, schlussfolgert er.
„Kann sein.“ – ‚Ich hoffe er meint aus der Uni und nicht aus dem Internet.‘
„Du sitzt doch hinter mir – Noel, richtig?“
„Du weißt, wie ich heiße?“ – ‚Jetzt bin ich aber baff.‘
„Klar. Du bist ziemlich schlau. Das find ich beeindruckend.“ Sein Blick huscht zu Fynn und Hanna, die auf mich warten. „Oh, ich will dich nicht aufhalten.“
„Schon ok. Wir haben uns bereits verabschiedet.“
„Jaja, schon klar“, seufzt Fynn und hebt die Hand. „Bis bald, Bruderherz.“
„Kommt gut nach Hause.“
Sie gehen. Ich begleite den hübschen Typen noch auf ein Bier in die Disco.
„Hier kann man sich schlecht unterhalten“, ruft er mir zu und wird von der lauten Musik beinahe übertönt.
„Wir können gern woanders hingehen.“
„Ja, gute Idee. Ich werd sonst noch heiser.“
„Ok. Aufs Klo oder lieber draußen?“
„Häh? Musst du nochmal? Ich kann draußen warten.“
„Äh, schon gut.“ – ‚Das hat er jetzt nicht begriffen. Was soll’s. Ich hab eh keinen Bock auf Sex. Die Frage kam ganz automatisch.‘
Wir ziehen durch die Straßen und unterhalten uns. Es ist eine angenehme Nacht mit milden Temperaturen. Ich genieße seine Gegenwart, doch habe die Gelegenheit verpasst, ihn nach seinem Namen zu fragen. Jetzt ist es mir zu peinlich.
„Ich find’s jedenfalls krass, dass du immer so schlaue Antworten geben kannst. Wie machst du das?“
„Übertreib mal nicht“, winke ich beschämt ab.
„Du musst doch die ganze Woche über in Büchern hängen, oder?“
„Äh, nein. Ich bin kein Streber.“
Doch, ich bin einer. Aber nur, weil ich es meinen Eltern unbedingt beweisen will, auch ohne sie zurechtzukommen.
„Deine Familie muss echt ungeheuer stolz auf dich sein.“
„Naja.“
„An Dates mangelt es dir bestimmt auch nicht. Die Mädels aus unserem Semester himmeln dich ständig an.“
‚Mann, der verehrt mich wie nen Popstar. Er scheint noch nicht herausgefunden zu haben, wie ich mein Geld verdiene.‘
„Noel, wollen wir vielleicht Freunde sein? Ich weiß, dass klingt voll nach Kindergarten, aber ich kann dich echt gut leiden.“
„O-Okay“, erwidere ich überrascht.
„Sehr schön. Los, speichern wir unsere Nummern.“
„Du zuerst.“ Rasch gebe ich ihm mein Handy und schmule beim Tippen über seine Schulter.
‚Ah, Enrico Feldmar heißt er. Endlich kenne ich auch seinen Namen.‘
Kapitel 4
Ich verbringe meine kompletten Semesterferien mit Rico. Wir verstehen uns super. Er ist ein toller Kerl mit wertvollem Charakter, der zudem noch genau mein Typ ist. Davon hat er aber keine Ahnung. Rico schnallt nicht, dass ich schwul bin. Ich reibe es ihm auch nicht unter die Nase. Irgendwie hab ich Schiss, dass er dann nix mehr mit mir zu tun haben will. Ich denke nur an meinen besten Freund aus Schulzeiten zurück.
„Jetzt haben wir nur noch das Wochenende, dann geht es wieder los“, seufzt Rico und lehnt sich gegen sein Auto. Wir waren heute wandern und beobachten vor der Heimfahrt den Sonnenuntergang.
„Doch nur bis zum Winter, dann ist wieder frei.“
„Trotzdem.“
„Wir können uns ja zusammensetzen, wenn du willst“, schlage ich selbstsüchtig vor.
„Ich weiß nicht, ob das ’ne gute Idee ist.“
„Du gibst mir nen Korb?“ – ‚Damit hab ich nicht gerechnet. Verdammt.‘
Rico wirkt nervös.
„Ich wollts dir eigentlich nicht sagen …“
Angst breitet sich in mir aus. ‚Hat er es rausgefunden?‘
Mich trifft sein ernster Blick.
„Ich – ich mag dich, Noel. Mehr, als du es dir vorstellen kannst.“
‚Häh?! Jetzt versteh ich die Welt nicht mehr.‘
„Wirklich?“
Rico nickt beschämt. „Ist ok, wenn du nicht mehr mit mir befreundet sein willst. Ich dachte erst, ich bilde mir die Gefühle nur ein, schließlich sind wir beide Kerle. Aber ich kann nicht damit aufhören. Deswegen ist es keine gute Idee, würden wir uns auch in der Uni zusammen sehen lassen. Ich würde nur deinen guten Ruf beschmutzen.“
Schweigend stelle ich mich ihm gegenüber und küsse ihn. Er ist ebenso überrascht wie ich über die Wendung unserer Freundschaft.
„Du darfst mich beschmutzen“, flüstere ich ihm ins Ohr und öffne schon seine Hose. Ich hab seit langem mal wieder richtig Bock auf Sex. Ricos unerwartetes Liebesgeständnis während dem romantischen Sonnenuntergang hat mich motiviert.
Wir fallen übereinander her und treiben es in seinem Auto. Danach setzen wir uns auf die Motorhaube und kuscheln, während wir den Sternenhimmel beobachten. Das gefällt mir bald noch besser, als der Sex.
„Ich hatte keine Ahnung“, seufzt Rico. „Hätte ich gewusst, dass du wie ich empfindest, hätte ich es dir schon viel früher gesagt.“
„Ging mir auch so. Ich hielt dich für hetero.“
„Bin ich eigentlich auch. Du bist der erste Typ, in den ich mich verliebt habe.“
„Du bist in mich verliebt?“ Verwirrt sehe ich ihn an.
„Ja, hab ich doch gesagt. Sonst hätte ich nicht mit dir geschlafen.“
‚Ach, du Kacke. Ich dachte, er findet mich nur geil, aber gleich von Liebe zu sprechen … Was mach ich denn jetzt? Bei meiner Vergangenheit kann ich niemals mit einem so aufrichtigen Kerl wie ihm zusammen sein. Wenn er erfährt, dass ich ein Callboy bin, wird es ihn verletzen.‘
„Ähm … versteh das jetzt nicht falsch, aber ich … ich suche keine feste Beziehung.“
„Was? Du spinnst doch.“
„N-Nein, Rico. Ich, ich mag dich – wirklich. Wir können auch gern wieder zusammen ins Bett gehen. Aber mehr -“
Das genügt ihm. Stinksauer schiebt er mich weg und rutscht von der Motorhaube. Ich seufze.
„Tut mir leid“, sage ich und stelle mich auf einen einsamen Heimweg durch die Nacht ein. Aber so schlimm wird es nicht. Rico ist so fair und fährt mich bis zum Bahnhof. Danach trennen sich unsere Wege.
Kapitel 5
Rico hält Wort und beachtet mich in der Uni nicht. Auch in unserer Freizeit haben wir keinen Kontakt mehr. Wir sind wie Fremde. Das nervt. Ich vermisse ihn. Es vergeht kein Tag, an dem ich ihm keine sehnsüchtigen Blicke zuwerfe und mich nach seinen zärtlichen Umarmungen sehne.
Mit Semesterbeginn ist auch mein Urlaub vorbei. Ich habe wieder jeden Tag Sex und er ist so stinklangweilig wie noch niemals zuvor. Kein Vergleich zu dem mit Rico. Ein weiterer Grund, weshalb ich irgendwann meiner Sehnsucht nicht mehr standhalte und ihn in der Uni anspreche.
„Ich will mit dir reden“, sage ich entschlossen und dulde keine Widerworte. Er ist nicht glücklich, aber lehnt mich nicht ab. Wir verziehen uns in die Bibliothek. Rico sucht ein Buch über Marketing.
„Ich möchte wieder mit dir befreundet sein.“
„Das geht nicht.“
„Warum denn? Wir haben uns so gut verstanden.“
„Pscht. Das ist eine Bibliothek.“
„… wir hatten so tollen Sex. Ich will es wieder mit dir tun, Rico.“ Forsch berühre ich seine Brust. Er schlägt meine Hand weg.
„Ich bin kein Fan von One-Night-Stands. Du willst keine Beziehung, also willst du mich nicht. Wir können unter den Umständen keine Freunde sein.“
„Ich will dich doch.“
„ICH bin mehr als nur mein Schwanz, Noel.“
Seine Worte gehen mir lange nicht aus dem Kopf. Im Prinzip sind es meine eigenen. Nur ist Rico intelligenter und hat, bevor er sich selbst zur Ware gemacht hat, begriffen, dass Sex ohne Liebe nichts wert ist. Für mich ist es zu spät. Ich gebe es ab dem Tag auf, ihn zurückzuerobern. Unsere Wege bleiben getrennt.
Kapitel 6
Heute ist Party angesagt. Ich bin mit Fynn und Hanna in einem Club unterwegs und trinke zu viel. Die Stimmung ist ausgelassen, bis ich Rico auf der Tanzfläche mit einer Frau ausfindig mache. Mir verschlägt es die Sprache. Er hält sie im Arm und sie flüstert ihm was ins Ohr. Ihre Finger fummeln an seinem Hemdkragen herum. Die Szene ist eindeutig. Rico scheint zurück ans andere Ufer geschwommen zu sein. Meine Laune ist im Keller. Der Alkohol in meinem Blut begünstigt meine Wut. Ich muss jemanden anschreien. Mein Bruder wird das Opfer. Aus dem Nichts blaffe ich ihn an und beleidige ihn, um mich danach zu verziehen. Ich benehme mich absolut daneben, aber mir ist gerade nach Sterben zu mute. Was ist nur los mit mir?
Vor dem Club spricht mich ein fremder Mann an. Er erkennt mich und wird aufdringlich.
„Zisch ab!“, schnauze ich ihn an. „Ich hab heut frei.“
„Los, sei nicht so. Ich hab Bock. Ich zahl dir auch was extra.“
„Nein!“ Ich stoße ihn weg und fange mir als Antwort einen Faustschlag ins Gesicht. In meinem Kopf klingelts und ich halte mir die schmerzende Stelle.
„Aua! Du Arschloch! Geht’s noch?!“
Er packt mich am Kragen und wirft mich zu Boden. Wir befinden uns an der Nebenstraße vor dem Club und sind allein. Niemand da, der mir helfen könnte.
„Scheiß Schwuchtel!“, schreit der Typ, während er mich tritt. „Hältst dich für was Besseres!“
Ich schirme meinen Kopf mit den Armen vor seinen Tritten ab und bete, dass die Schmerzen bald vorbei sind und er mich nicht umbringt.
„Hey, hör auf!“
Jemand zerrt den Schläger von mir weg. Ich höre einen kurzen Kampf, dann verzieht sich der aggressive Kerl. Benommen sehe ich auf. Mir tut alles weh. Auf einmal dreht sich mein Magen um und ich muss kotzen.
„Scheiße, was wollte der von dir, Noel?“
„Rico?“
„Soll ich dich ins Krankenhaus bringen? Du bist voller Blut.“
„Passt schon“, antworte ich und wische mir über den Mund. Ich versuche aufzustehen. Mein Gleichgewicht ist futsch. Ich merke deutlich meine Fahne. Rico gibt mir halt. Wütend schlage ich ihn weg.
„Geh wieder zu deiner Freundin“, knurre ich verletzt. „Scheinbar stehst du nicht mehr auf Schwuchteln wie mich.“
„Du bist total dicht. Komm, ich bring dich nach Hause.“
„Pfoten weg! Ich brauch keine Hilfe! Ich bin schon immer bestens allein klargekommen!“
„Was ist denn hier los?“, höre ich plötzlich die Stimme meines Bruders. Er und Hanna kommen zu uns gelaufen. „Scheiße, Noel – Wieso blutest du? War das der Typ?“
Fynn ballt die Fäuste. Unser Streit ist sofort vergessen.
„Nein“, knurre ich. „Los, gehen wir nach Hause. Ich will ins Bett.“
„Du musst zu einem Arzt“, sagt Hanna.
„Ach, mir geht’s gut.“
„Nein, Noel. Los, ich bring dich ins Krankenhaus.“ Fynn legt besorgt seine Hand auf meine Schulter. Ich schlage ihn weg, wanke und finde Halt durch Rico. Er stützt mich.
„Er bringt mich nach Hause“, lalle ich.
„Der Typ, der dich verdroschen hat?“
„Ich hab ihn nicht geschlagen, sondern gerettet. Wir sind Kommilitonen“, erklärt Rico.
„Ja, und ich hab meine Meinung geändert und gehe jetzt mit ihm nach Hause.“
Mein Bruder bleibt skeptisch, aber ich ignoriere seinen Einwand. Zusammen mit Rico fahre ich zu meiner Wohnung.
„Willst du mit reinkommen?“, frage ich zögernd.
Er lehnt ab.
„Dann eben nicht.“ Beleidigt will ich durch die Tür, aber er hält mich fest. „Was ist noch?“
„Schlaf deinen Rausch aus“, seufzt er. Ich verdrehe die Augen und verschwinde in meiner Wohnung. Ich bin zu besoffen, um auf die Idee zu kommen, mich bei ihm zu bedanken. Ich schaffe es noch zu duschen, dann falle ich ins Bett.
Am nächsten Morgen wache ich mit hämmerndem Schädel auf. Mein Gesicht gleicht einer Ruine. Ich hab ein Veilchen und eine geschwollene Lippe. Dieser Wichser hat mich ordentlich erwischt. Abgenervt will ich mir eine Kopfschmerztablette einwerfen, jedoch ist die Schachtel leer.
„Toll, hättest mal neue kaufen sollen.“
Mit zerschundenem Gesicht geht’s in die Apotheke. Dort komme ich jedoch nicht an. Als ich meine Wohnungstür öffne, kippt mir Rico entgegen. Ich erschrecke mich fast zu Tode.
„Was machst du hier?!“
„Ich hab gewartet“, sagt er und reibt sich verschlafen die Augen.
„Häh?!“
„Ich hab mir Sorgen gemacht und wollte dich nicht allein lassen.“
Ich bin baff. Meine Erinnerungen sind nicht die besten. Ich weiß nicht mehr alles vom gestrigen Abend, aber Ricos Freundin ist mir nicht entfallen.
„Da wird es wohl Ärger von deiner Liebsten geben, weil du die Nacht bei mir verbracht hast.“
„Was redest du da?“
„Na, die Tussi, die du gestern im Club im Arm gehalten hast und die dir ins Ohr flüsterte.“
„Ach, die. Hast du uns gesehen?“
„Ja.“
„Hast du deswegen ’ne Schlägerei angefangen?“
„Nein“, knurre ich. „Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, aber da du jetzt eh ’ne Freundin hast, brauch ich die Wahrheit auch nicht mehr verschweigen. Ich arbeite als Webcam- und Callboy.“ Beschämt weiche ich Rico aus. „Ja, du hast mit einem billigen Stricher gefickt, für den nur Schwänze zählen. Absoluter Abschaum.“
„Was?“
„Du kannst abhauen!“, schreie ich und stoße ihn von mir. „Ist okay! Du bist was Besseres und willst mit mir Loser nichts zu tun haben. Danke für die Hilfe und auf nimmer Wiedersehen.“
„Was laberst du? Ich hab gewusst, als was du arbeitest.“
„Häh?!“
Plötzlich wird die Wohnungstür gegenüber aufgerissen und mein wütender Nachbar reckt seinen Kopf heraus.
„Ruhe!“, faucht er.
Ich bin zu perplex, um zu antworten. Rico entschuldigt sich und wir gehen in meine Wohnung. Fassungslos sinke ich auf meiner Couch zusammen.
„Du hast es gewusst?“
Er nickt. „Ich hab dich durch Zufall in einer Anzeige auf ner Gaysite gesehen, nachdem wir Schluss gemacht hatten.“
„Deswegen war ich wie Luft für dich.“
„Nein“, meint er ernst. „Ich will eine Beziehung, keinen bedeutungslosen Sex.“
„Er hat mir was bedeutet.“ Trotzig sehe ich ihn an und erschrecke mich selbst über meine Worte. Rico wirkt ebenfalls verdutzt. Er hebt eine Augenbraue.
„Aber du liebst mich nicht.“
„Wer weiß.“
„Einen Moment, Noel. Gestehst du mir gerade deine Liebe?“
„Nein, dafür ist es eh zu spät. Ich bin kein Romantiker und hatte auch noch nie eine Beziehung. Ich kann nur das eine, obwohl es mir mit anderen absolut keinen Spaß mehr macht, seit ich dich kennengelernt habe. Aber das ist jetzt alles egal. Du hast dir diese komische Tusse angelacht. Die passt besser zu dir, als ein Loser-Callboy wie ich. Ich hoffe, ihr werdet glücklich.“
Rico fängt plötzlich an zu lachen. Fassungslos starre ich ihn an. Er fängt sich und gibt mir unerwartet einen Kuss.
„An deiner Beobachtungsgabe musst du noch üben“, erklärt er schmunzelnd und streichelt mir nach dem Kuss über die Wange. „Diese Frau ist meine Cousine. Wenn du uns etwas genauer beobachtet hättest, wäre dir ihr Verlobter aufgefallen, der mit uns gemeinsam auf der Party gestern war.“
„Deine Cousine?“ Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich fühle Tränen der Erleichterung. Beschämt blinzle ich sie weg. „Ich bin völlig durch den Wind. Tut mir leid.“
Er lächelt und nimmt mich in den Arm. Ich fühle seine Wärme.
„Ich konnte unsere gemeinsame Zeit auch nicht vergessen, Noel. Da ich aber davon ausgegangen bin, bei dir nie eine Chance zu haben, wollte ich den Kontakt abbrechen und von dir loskommen. Deswegen habe ich dich gemieden.“
„Das war Scheiße von dir.“
„Findest du?“ Er grinst. „Immerhin bist du deswegen eifersüchtig geworden.“
„Dann war das Absicht?“ Lachend boxe ich ihm gegen den Arm. „Wie fies.“
Wir küssen uns und ich lasse mich rückwärts auf die Couch sinken. Rico liegt auf mir. Er streichelt mir durch die Haare, während wir uns weiter küssen. Ich fühle ein wohliges Kribbeln im Bauch. Ich habe Rico vermisst. Es macht mich glücklich, wenn er bei mir ist.
„Hast du Lust auf ein Experiment?“, fragt er plötzlich.
„Was für eins?“
„Lass uns zusammen sein. Vielleicht gefällt es dir, einen Partner zu haben, von dem du mehr als nur Sex bekommst.“
„Und mein Job?“
„Hängst du an dem?“
„Nein“, lache ich. „Aber ich brauche das Geld.“
„Ich kenne da eine tolle Bar. Rein zufällig gehört sie dem Verlobten meiner Cousine. Er sucht gerade einen Kellner zur Aushilfe.“
„Vermittelst du mir gerade einen anderen Job?“
„Purer Eigennutz“, grinst Rico und zieht mir in einem Schwung die Hose aus. „Ich will dich nicht mit anderen teilen.“
„Dann bist du mir nicht mehr böse, weil ich dich belogen habe?“
„Doch, aber deine Strafe wird knallharter Bestrafungssex sein. Danach sind die Wogen geglättet.“
Ich lache und lege meinen Fuß auf die Beule in seiner Hose. „Bestraf mich und danach beginnen wir unser Experiment.“
„Sehr gern.“
Für „Liebe“ gibt es unzählige Definitionen und dennoch ist sich die Wissenschaft nicht einig, was genau unter dem Begriff zu verstehen ist und was er alles umfasst. Für mich haben sich Liebe und Sex immer voneinander unterschieden. Es hat erst den einen Menschen gebraucht, damit ich begriff, dass ich das eine ohne das andere nicht will. Aber jetzt bin ich froh, über meinen Schatten gesprungen zu sein und mich auf das Unbekannte einzulassen. Möge das Experiment beginnen.